Kapitel 8
Zélie
Was im Namen aller Götter ist das?
Ich weiche zurück, drücke mich gegen das Podest. Die schwarze Flüssigkeit breitet sich wie Wasser auf dem Sand aus, sie schäumt und brodelt, um sich dann als Gas in der Luft zu verteilen.
Dunkle Wolken steigen über den Köpfen auf. Wenn sie einen Kosidán streifen, passiert nichts. Die Tîtánen, auf die sie treffen, husten leicht.
Nur die Maji schreien, als würden ihnen die Fingernägel herausgerissen.
»Hilfe!«
Ein junger Maji fasst sich an die Kehle. Seine hellbraune Haut brennt und schlägt Blasen. Er bekommt keinen Ton mehr heraus, erstickt schließlich an dem schwarzen Rauch.
Da dämmert mir, um was es sich handelt: Es ist giftiges Majazit, jedoch nicht in Form von Metall.
Es ist in der Luft.
Als Gas.
»Weg hier!«, rufe ich Tzain und Amari zu und klammere mich an das Podest. Furcht trifft mich wie ein Rammbock. Ohne meine Füße zu spüren, klettere ich nach oben.
Die Majazitwolke breitet sich unter der Kuppel aus, wälzt sich immer weiter. Panische Schreie erfüllen die Luft, Maji stolpern und fallen übereinander in ihrer Hast, die Ausgänge zu erreichen.
»Nicht einer darf entkommen!«, tobt Nehanda. »Orïsha muss vor diesem Wahnsinn geschützt werden!«
»Mutter, bitte!«, ruft Amari, doch Tzain zieht sie von der Bühne. Er packt mich am Arm und stürzt Richtung Ausgang, schleppt Amari und mich durch die hysterischen Massen.
Von allen Seiten kommt die Leibwache der Königin in golden blitzenden Rüstungen näher. An den Unterarmen der Soldaten schimmern dieselben Stulpen wie bei Nehanda. Die Gardisten tragen goldene Masken über Nase und Mund.
»Attacke!«, befiehlt Nehanda, und ich erwarte noch mehr Glaskugeln oder Majazit. Stattdessen beginnen die Hände der Leibgarde grün zu leuchten. Mir wird klar, warum diese Soldaten eine besondere Funktion haben.
Das ist nicht nur Nehandas Leibwache.
Es ist ihre Legion von Tîtánen.
Als sich die Tîtánen eine Gruppe fliehender Maji vornehmen, packt mich das pure Entsetzen. Der Sand unter den Füßen der Maji bildet Strudel und wird hart wie Beton. Sandsäulen schießen aus dem Boden und stürzen auf meine Leute.
Vor Wut schreiend muss ich ansehen, wie Nehandas Tîtánen die Magie der Erdsänger vor meinen Augen entweihen. Wie können sie es wagen, unsere ureigenen Kräfte gegen uns einzusetzen? Ich sehe, dass einer der Soldaten vor Schmerz das Gesicht verzieht. Offenbar wissen sie mit ihrer neugewonnenen Macht gar nicht umzugehen.
»Hilfe!«, schreit er.
Die Menschen um ihn herum nehmen Reißaus. Der Boden zu seinen Füßen bebt gewaltig. Seine Haut zersetzt sich. Er hat keine Kontrolle über seine Magie.
Wie ein Blitz explodiert das grüne Licht in seiner Brust. Das Leben in seinen braunen Augen erlischt.
Der Tîtán fällt zu Boden. Seine Leiche wird im Gewühl niedergetrampelt.
»Komm, Zél!« Tzain zieht mich weiter. Ich habe Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Die Not dieses Tîtáns, wie er die Kontrolle verlor – das habe ich selbst schon erlebt.
Es ist eine Kraft, die Maji nicht einsetzen dürfen. Sie ist so gewaltig, das sie jeden verzehrt, der sie ausüben will.
Das ist Blutmagie.
Unerklärlicherweise verfügen die Tîtánen nun darüber.
»Mörderin!«
Ein Adeliger packt die kreischende Amari am Zopf und reißt sie nach hinten. Tzain wirft sich auf ihn und versetzt ihm einen Kinnhaken.
»Tzain!« Ich will in der Nähe der beiden bleiben, doch es dauert nicht lange, da sind sie in der Menge verschwunden. Ohne meinen Bruder sind die Menschen vor mir eine undurchdringliche Wand.
»Tzain, hilf mir!« Mit laut pochendem Herzen prügele ich auf die Oberkörper derjenigen ein, die mir den Weg verstellen. Vorne drängen Tîtánsoldaten näher. Von hinten droht die schwarze Wolke.
Ich versuche, weiter durchzukommen. Da streift der erste Schwaden einer Majazitwolke meinen Hals. Ich kann nur noch schreien.