Kapitel 11
Amari
Eine Zeitlang ist es still. Niemand sagt ein Wort. Tief in mir weiß ich, dass wir so weit fort von Mutter müssen wie möglich, doch ich kann mich einfach nicht überwinden, mich in Bewegung zu setzen. Roëns Worte hängen drohend über mir, zusammen mit Mutters Ankündigung.
Wenn ganz Orïsha uns jagt, wo sollen wir dann hin?
»Ich schaffe das schon«, zwinge ich mich zu sagen, auch wenn ich es selbst nicht glaube. »I…i…ich finde eine Möglichkeit, Mutter aufzuhalten. Ich besorge den Lohn für Roën.«
»Ruh dich erst mal aus.« Tzain kommt zu mir und legt mir die Hand auf den Rücken. »Du hast viel mitgemacht. Du musst nicht heute Abend alle Antworten finden.«
Ich möchte ihm gerne glauben. Mich in seinen sicheren Armen verstecken. Aber seine tröstliche Berührung kann Zélies Tränen nicht ungeschehen machen. Trotz des Kummers in meinem Herzen möchte ich nichts anderes, als ihr den Schmerz zu nehmen. Ich winde mich aus Tzains Griff und knie mich neben Zélie auf den Boden.
»Ich mache das wieder gut«, flüstere ich. »Versprochen. Ich kenne meine Mutter besser als jeder andere. Sobald ich ihre Taktik durchschaut habe, weiß ich, wie wir sie angreifen können.«
»Angreifen?« Zélie legt den Kopf schief, als hätte ich in einer fremden Sprache gesprochen. »Sie hat eine Kuppel auf uns stürzen lassen! Wie in Oyas Namen sollen wir sie besiegen?«
Zélies Stimme bebt vor Angst, die ich gerne vertreiben würde, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe noch nie von einer Kraft wie der meiner Mutter gehört. Selbst als Tîtán dürfte es nicht möglich sein, anderen die Magie aus den Adern zu ziehen.
»Mutters Magie ist zwar stark«, sage ich langsam. »Vielleicht sogar stärker als jede Magie, die ich bis jetzt gesehen habe. Doch jede große Macht hat auch eine Schwäche. Wir werden herausfinden, wo sich ihre verbirgt.« Ich denke an die Tîtánen, denen sie die Kraft entzogen hat, und frage mich, ob darin vielleicht die Antwort liegt. »Wenn wir unsere Kräfte trainieren und begreifen, wie ihre Gabe funktioniert, können wir ihren Vorteil zunichtemachen. Dann können wir Mutter zwingen, mir den Thron zu überlassen.«
»Und wenn sie das nicht zulässt?«, fragt Tzain.
Wenn sie das nicht zulässt?
Ich kralle die Finger in meine Kopfhaut, will es nicht aussprechen. Noch vor wenigen Stunden waren Kosidán, Maji und Tîtán jubelnd bereit, sich von mir vereinen zu lassen. Innerhalb kürzester Zeit hat meine Mutter diese Einheit in Chaos verwandelt.
Wenn sie an der Macht bleibt, werden alle Maji sterben. Unzählige Orïshaner werden leiden. Mit ihr auf dem Thron wird dieses Königreich nie etwas anderes als Krieg kennen. Ich muss sie aufhalten.
Auch wenn sie meine Mutter ist.
Ich stehe auf und zücke mein Schwert. Mit zitternden Händen stoße ich es in den Boden.
»Wenn sich meine Mutter weigert, mir Platz zu machen, werde ich sie beseitigen«, verkünde ich. »Ich werde dem Krieg ein Ende machen und den Thron besteigen.«
Ein unangenehmes Schweigen folgt auf mein Versprechen.
»Und was ist mit dem Adel?«, fragt Tzain. »Mit den ganzen Soldaten und Tîtánen, die auf ihrer Seite stehen?«
Bei dem Gedanken, es mit all diesen Menschen aufnehmen zu müssen, wird mir übel. Ich will nicht gegen mein eigenes Volk kämpfen, schon gar nicht gegen Tîtánen wie mich. Es müssen Hunderte sein, die sich Mutters Krieg gegen die Maji angeschlossen haben. Vielleicht sogar Tausende. Wenn ich sie alle umbringe, bin ich nicht besser als mein Vater. Dann bin auch ich ein Ungeheuer.
»Bevor meine Mutter auf der Kundgebung auftauchte, hatte ich alle auf meiner Seite. Sobald sie nicht mehr da ist, wird es wieder so sein.«
»Wird es nicht.« Zélies Stimme bringt Kälte in die windige Nacht. »Wir haben den Kampf bereits verloren. Die Monarchie verfügt jetzt über Magie, und sie hasst uns mehr denn je zuvor. Dabei ging es nie um die Magie!«
»Zél–«, sagt Tzain.
Sie unterbricht ihren Bruder: »Die Lösung besteht nicht darin, Amaris Mutter umzubringen. Dann wird nur der nächste Maji-Hasser ihren Platz einnehmen. Es ist Zeit, Orïsha hinter uns zu lassen. Frei zu sein. Gehen wir, solange wir noch können!«
Die Sehnsucht in ihrer Stimme trifft mich unvorbereitet. Das verstehe ich nicht. Es ist nicht Zélies Art, davonzulaufen.
»Ich weiß, dass es schlecht für uns aussieht«, räume ich ein. »Aber wir können die Menschen nicht im Stich lassen. Wir müssen das Königreich retten. Wir haben keine andere Wahl …«
»Haben wir wohl.« Zélie steht auf. »Die haben wir. Wir haben es ja versucht. Zwei Mal. Jetzt wird es Zeit, dass wir an uns selbst denken!«
»Ich bin die Königin von Orïsha«, erwidere ich. »Auch wenn sie mich nicht wollen. Egal, wie hart es wird, ich laufe nicht davon. Es ist meine Pflicht, jedem Menschen in diesem Königreich zu dienen und ihn zu schützen.«
Hilfesuchend sieht Zélie ihren Bruder an, doch der verschränkt die Arme vor der Brust.
»Zél, sie hat recht. Baba ist gestorben, damit wir kämpfen können …«
»Baba ist für eine Lüge gestorben!« Zélie boxt mit der Faust gegen einen Baum. »Er hat sein Leben für die Magie gegeben, und wo ist sie nun? Nehanda war stärker als jeder Maji, den ich je gesehen habe!«
Zélies Stimme wird von den Bäumen zurückgeworfen. Sie zwingt sich, tief durchzuatmen. Kurz bricht ihre Wut auf, und ich sehe den Schmerz, der in ihr brodelt.
»Ich bin es leid, mich für das Königreich zu entscheiden, für die Magie, für die Maji – für alles, nur nicht für mich. Wir haben endlich die Chance, frei zu sein! Es ist vielleicht die einzige Chance, die wir je bekommen.«
Sie schaut mich an, und es kommt mir vor, als hielte ich ihr Herz in den Händen. Ich will nur eins: ihr helfen. Ihr den Schmerz nehmen. Aber nicht nur ihr.
Ich schließe die Augen und wappne mich für den Zorn, der gleich über mich hereinbrechen wird. Orïsha wartet auf niemanden.
Nicht einmal auf das Mädchen, das meinem Herzen so nah ist.
»Zélie …«
»Ach, ihr Götter!« Sie wirft die Hände in die Luft und stapft auf unsicheren Beinen davon.
»Bleib doch mal stehen!« Tzain versucht, seine Schwester zu beruhigen. »Wir sind doch jetzt viel zu müde und kaputt, um das zu klären.«
»Nein, sind wir nicht.« Die Kälte in Zélies Stimme lässt die Wärme im Blick ihres Bruders ersterben. »Dich hat das Gas nicht verletzt. Und denen tut es nichts.« Sie nickt in meine Richtung. Ich balle die Fäuste.
Denen.
Das Wort verletzt mich mehr als jedes meiner Mutter.
»Was ist mit den Plänen der Götter?«, rufe ich Zélie zu. »Was ist aus dem Versprechen geworden, dass du immer an meiner Seite sein willst?«
»Wie soll ich auf deiner Seite stehen, wenn Babas Tod nur den Aufstieg deiner elenden Mutter und ihrer Tîtánen ermöglicht hat?«
»Das ist ungerecht.« Meine Wangen brennen, so weh tun mir ihre Worte. Zélie funkelt mich böse an, als sei ich ein Ungeheuer. Als hätte ich den Pfeil abgeschossen, der ihren Vater tötete. »Ich habe in dem Kampf auch mir nahestehende Menschen verloren.«
»Soll ich jetzt vielleicht um dein Schwein von Vater weinen?«, gibt sie zurück. »Diesen Schwächling bemitleiden, den du Bruder nennst? Dein Vater hat mich so zugerichtet, dass ich meinen eigenen Rücken nicht mehr fühlen kann! Wegen dir und deiner Familie sind meine Eltern tot!«
Zélie humpelt zu Nailah und zieht sich an ihr hoch, obwohl sie vor Erschöpfung zittert.
»Vergleich deine Narben nicht mit meinen, Prinzessin. Das verlierst du.«
»Ich verliere?« Ich stürze zu ihr. »Ich verliere ? Du hattest Eltern, die dich bis zu ihrem letzten Atemzug geliebt haben. Du hast einen Bruder, der zu dir steht. Meine Eltern haben beide versucht, mich eigenhändig zu töten! Ich habe meinen eigenen Vater umgebracht, um dich und die Maji zu retten!« Meine Stimme bebt vor Tränen, die herauswollen, doch ich gestatte es ihnen nicht. Ich werde nicht zulassen, dass Zélie gewinnt. Ich lasse nicht zu, dass sie mich zum Weinen bringt.
»Mir tut es unsagbar leid, was meine Familie dir angetan hat«, fahre ich fort, »aber tu nicht so, als hätte ich nichts zu erleiden. Du bist nicht die Einzige, die hier verletzt ist, Zélie! Meine Familie hat mir genauso weh getan wie dir!«
Ihr Gesicht wird ausdruckslos, ich bleibe abrupt stehen. So gerne würde ich die Kluft zwischen uns überbrücken, doch jedes Wort bringt uns nur weiter auseinander. Lange sieht sie mich an, ein furchtbarer, leerer Blick in ihren silbernen Augen. Dann wendet sie sich ab und befiehlt Nailah, sich hinzulegen, so tief, dass Zélie aufsteigen kann.
»He, Zél!« Tzain geht ihr nach. »Es reicht jetzt. Wir sind alle erledigt. Wir sind alle verletzt. Uns gegeneinander zu wenden, ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können!«
Zélie schiebt die Zunge hinter die Unterlippe und setzte sich auf Nailahs Rücken. »Wie schnell aus ›du und ich‹ ›du und Amari‹ geworden ist …«
»Bei den Göttern! Zél-«
»Hast du mich gehört?«, unterbricht sie ihn. »Als meine Haut brannte und ich keine Luft mehr bekam? Hast du da gehört, dass ich dich gerufen habe, oder hast du dich um Amari gekümmert?«
Tzains Lippen öffnen sich. Beschämt runzelt er die Stirn. »Das ist ungerecht«, sagt er. »Und das weißt du auch.«
»Ihr beide seid wie füreinander geschaffen.« Zélie drückt die Oberschenkel gegen die Flanken ihres Rittlings, damit Nailah aufsteht. »Grüß ihre Mutter von mir! Sie mag die Söhne von armen Fischern bestimmt genauso gerne wie Maji.«
»Ich schwöre bei den Göttern –«
»Hüah!« Nailah prescht los, auf die Bäume zu.
»Zelie!« Tzain rennt ihr hinterher, doch schon nach wenigen Sekunden ist sie nicht mehr zu sehen. Er schlägt die Hände vors Gesicht, trommelt gegen den nächsten Baum.
»Sie kehrt zurück«, murmelt er in die Rinde. »Sie muss nur wieder zu sich kommen.«
Ich nicke, doch als ich zu Boden sinke, weiß ich nicht, wem er das einreden will.