Kapitel 13
Zélie
Ich weiß nicht, ob ich in einem Traum oder Albtraum gefangen bin.
Obwohl ich keine Ketten trage, kann ich mich nicht bewegen.
Frische Luft füllt meine Lunge, dennoch kann ich nicht atmen.
Um mich herum ist verwelktes, graues Schilf, ein weißer Dunstschleier liegt wie eine Decke über mir. Erde klebt an meiner nackten Haut und fällt hinunter, als ich mich aufrappele.
Was ist passiert?
Die Frage hämmert in meinem Kopf, während ich mich in der Traumwelt umsehe. Als ich das letzte Mal an diesem ätherischen Ort war, hatte mir gerade Sarans Messer in den Rücken geschnitten. Damals habe ich Inan unter Tränen geküsst.
Jetzt ist hier kein üppig grüner Wald. Kein plätscherndes Wasser.
Nur ich bin da.
Und er .
Inan liegt im welken Schilf, viel näher, als ich ihm je wieder sein möchte. Ich weiß nicht, ob ich mir nur einbilde, dass er hier ist, oder ob er wirklich dort liegt.
Ich weiß nicht, ob er tot ist oder noch lebt.
Ihn zu sehen ist, als würde sich eine Hand um meine Kehle und eine andere um mein Herz legen. Als er sich regt und aufrichtet, bin ich fassungslos.
Ich weiche einen Schritt nach hinten. Er stöhnt, murmelt etwas vor sich hin. Sein Oberkörper ist nackt, seine Haut matt, der braune Körper schmal. Die weiße Strähne in seinem krausen Haar leuchtet, eine Locke fällt zwischen seine bernsteinfarbenen Augen. Langsam blinzelnd kommt er zu sich. Als er mich wahrnimmt, erwacht er vollends zum Leben.
»Zélie?«
Meine Hände zittern, als ich meinen Namen aus seinem Mund höre. Er hat ein anderes Messer als sein Vater. Inans Klinge dringt bis in die tiefsten Winkel meines Herzens und dreht sich dort.
Das kann nicht wahr sein . Ich schüttele den Kopf. Das ist nicht die Realität.
Doch Inan steht vor mir. Er drückt die Hand auf seinen vernarbten Bauch, als würde er bluten, und reißt die Augen auf. Ich kann fast sehen, wie die Erinnerung zu ihm zurückkommt. Der Schmerz, als das Schwert seines Vaters in seine Eingeweide fuhr.
Ich lege die Hand auf den Rücken. Meine Finger streifen das Wort MADE , das sein Vater dort hineingeritzt hat. Wir sind so tief gefallen. Früher war die Traumwelt der einzige Ort, wo wir keine Narben hatten.
»Sie sollten nicht schießen!«, ruft Inan. Seine Worte überschlagen sich. »Das musst du mir glauben! Ich hatte den Befehl gegeben!«
Ich schlage die Hand vor den Mund, dennoch entweicht mir ein Schluchzer.
Bei jedem Wort, das er sagt, will meine unterdrückte Magie aus mir herausbrechen. Ich versuche zwar, sie einzudämmen, schaffe es aber nicht. Ich kann die Erinnerungen nicht verdrängen –
»Nein!«
Der Schrei hallt durch meinen Kopf. Wird von den heiligen Tempelwänden zurückgeworfen. Diesmal sehe ich, wer schreit. Nicht mein Bruder, sondern Inan.
Mein Körper sackt auf den Steinboden. Babas folgt mit einem schweren Aufschlag.
Der Pfeil durchbohrt seine Brust.
Sein warmes Blut rinnt über meine Finger …
»Bitte!«, fleht Inan. »Ich dachte, ich hätte die richtige Entscheidung getroffen.«
Das Pochen in meinem Kopf macht es mir schwer, ihn zu verstehen. Meine Magie heult und brüllt, will sich auf Inan stürzen.
»Ich habe dir vertraut.« Ich spreche so leise, dass ich nicht weiß, ob er mich versteht. Mein Herz ist zerbrochen, wie Glas. Wegen ihm.
»Es tut mir leid.« Inan schüttelt den Kopf. »Es tut mir so leid …«
Er streckt die Hand nach mir aus, und ich erinnere mich an alles: an den verängstigten Prinzen. An Lippen, die mir das Blaue vom Himmel versprachen. An Hände, die meinen Körper liebkosten.
»Ich mache es wieder gut«, sagt er. »Das verspreche ich dir. Selbst wenn es mich das Leben kostet.«
Er hat mir schon so viel versprochen.
Dann hat er Baba in den Tod geführt.
»Zélie …«
Als die Magie aus mir herausbricht, brülle ich wie eine Löwenesse.
Ein Feuer, das ich seit dem heiligen Ritual nicht mehr gespürt habe, flammt in mir auf.
Mammutbäume wachsen aus dem Boden und verdunkeln den Himmel, an dem keine Sonne scheint. Meine Magie sickert in den Boden. Die Traumwelt verschiebt sich, spiegelt all mein Leid.
»Bitte, Zélie!«
Schwarze Baumwurzeln schießen aus der Erde und schlingen sich um Inans Waden. Wie Schlangen wickeln sie sich um seinen Körper und reißen ihn nach hinten. Ich weiß nicht, wie es mir gelingt, Inans Traumwelt zu beherrschen, aber es ist mir auch egal. Ich gleite nach vorne, während die Wurzeln ihn an einen Baum fesseln, ihn an Taille, Brust und Hals fixieren.
»Warte!«, ruft er, als ich die Hand schließe. Die schwarzen Ranken um seine Kehle ziehen sich zu, würgen seine Worte ab. Inan keucht. Die raue Borke reißt seine Haut auf, Blut läuft ihm den Rücken hinunter. In meinen Schultern spüre ich seine Schmerzen, aber es ist mir egal.
Hauptsache, es tut ihm weh.
»Zélie!« Inans Augen brennen rot. Ich balle die Hand zur Faust und ziehe die Wurzeln so straff, dass er keine Luft mehr bekommt. Sein Schlüsselbein knackt.
»Hau ab!« , zische ich ihm zu. »Und bete!« Ich schiebe das Gesicht ganz nah an ihn heran und kralle die Finger so heftig in meinen Handteller, dass es blutet. »Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen, dass du damals gestorben wärst.«
Noch einmal drücke ich zu. Seine Pupillen verdrehen sich nach hinten.
Er erschlafft. Die Traumwelt zerbricht.