Kapitel 14
Inan
Zélie, nein!
Ich schlage die Augen auf. Meine Hände greifen an meine Kehle. Ich krümme mich unter einem rasselnden Husten, ringe nach Luft. Mein Körper widersetzt sich mir.
Ich greife nach dem erstbesten Gegenstand, um mich zu beruhigen. Hier ist nichts als Dunkelheit und Schmerz.
Nur der Krieg in meinem Kopf.
Hau ab! Zélies Stimme hallt durch meinen Schädel. Und bete. Ihr Hass holt mich in die Gegenwart zurück. Die Rache, die sie mir schwor. Immer noch keuchend, gelingt es mir allmählich, durch den Schmerz etwas zu erkennen.
Es hat nicht funktioniert …
Die Magie ist zurück.
Die Erkenntnis breitet sich in mir aus, als hätte ich ein Betäubungsmittel bekommen. Mein Kopf pocht zwar, doch meine Schmerzen sind betäubt. Kurz treten alle anderen Gedanken in den Hintergrund.
Ich habe alles dafür getan, die Rückkehr der Magie zu verhindern. Ich habe meine Schwester und das Mädchen, das ich liebe, verraten. Dennoch hat Vater mir sein Schwert in den Bauch gestoßen.
Und doch habe ich das Gift noch im Blut.
Zähle bis zehn . Ich krümme die Finger und atme langsam aus. Als der Schmerz im Bauch zurückkommt, lasse ich mich langsam auf das verschwitzte Kopfkissen sinken. Mit zitternden Händen greife ich nach unten und ertaste die dicke Narbe von Vaters Schwert. Sie ist immer noch empfindlich.
Während ich mit den Fingern über die erhabene Haut streiche, stehen mir Vaters gefletschte Zähne vor Augen. Ich höre das Knurren aus seiner Kehle. Zorn brannte in seinen braunen Augen, als er mir seine Majazitklinge in die Eingeweide stieß.
Wie konnte er das tun? In meinem vernebelten Kopf suche ich nach Antworten. Als ich in eine Lache meines eigenes Bluts fiel, dachte ich, ich würde nie wieder aufstehen. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist Amari, die mir zur Hilfe kam und sich Vater entgegenstellte.
Ich habe keine Ahnung, wie ich in dieser ersterbenden Traumwelt gelandet bin. Oder wie viel Zeit seit jenem verhängnisvollen Tag vergangen ist. Was mit meinem Vater und meiner Schwester geschehen ist. Ich weiß nicht, wo ich bin …
Plötzlich ertönt ein tiefes Geräusch. Mein Kopf schießt hoch. Zuerst dröhnt es nur, doch nach wenigen Sekunden schmettert es mit der Kraft von tausend Hörnern. Die Vibrationen lassen das Bett, in dem ich liege, erbeben. Mir gefriert das Blut in den Adern. Der Klang der Hörner verkündet Schrecken, Blutvergießen und Tod.
Er bedeutet Krieg.
Was um der Himmel willen? Ich krabbele aus den seidenen Laken, meine Glieder sind wackelig wie Gummi. Ich will aufstehen, meine Beine geben nach. Taumelnd falle ich hin.
Die Hörner verstummen nicht. Ich hebe meinen pochenden Kopf vom Samtteppich und erstarre, als ich in die durchdringenden grünen Augen einer aufgestickten Schneeleopardesse schaue.
»Was ist hier los?«, flüstere ich. Meine Augen gewöhnen sich an das schwache Kerzenlicht, ich kann eine karmesinrote Wand, einen Marmorbogen und die üppigen Polstermöbel von Vaters königlichen Gemächern erkennen.
Unter dem warnenden Klang der Hörner drehe ich mich zu den goldenen Fensterscheiben um. Spitze Schreie dringen durch die dicken Vorhänge. Der Nachthimmel, der zwischen den Samtfalten zu erkennen ist, wird rot. Meine Nackenhaare stellen sich auf –
»Ihre Majestät, bitte!«
Die Tür wird geöffnet. Kerzenlicht fällt ins Zimmer. Geblendet taumele ich gegen die Wand. Eine Kommandantin stürmt mit ihren bewaffneten Soldaten in Vaters Gemach.
»Schnell!« Sie läuft zum Bett. »Wir müssen ihn in den Keller schaffen!« Doch als die Frau sich auf das Seidenlaken wirft, erkenne ich, wer es ist.
Es ist meine Mutter.
In der goldenen Rüstung ist ihre zierliche Gestalt kaum zu erkennen. Ihr sonst glattes Haar fällt ihr in wilden Locken bis auf die Schultern. Doch am seltsamsten ist die weiße Haarsträhne hinter ihrem Ohr.
»Wo ist er?«, kreischt sie und reißt die Laken beiseite. »Wo ist mein Sohn?«
Die Soldaten zerren sie zur Tür.
Dann entdeckt sie mich an der Wand.
»Inan?«
Sie wird blass. Schlägt die Hand vor den offenen Mund. Tränen steigen ihr in die bernsteinfarbenen Augen. Sie stolpert rückwärts, krümmt sich, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen.
»Du bist aufgewacht!«
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es fühlt sich an, als läge ein ganzes Leben zwischen uns. Sie hat immer noch bronzefarbene Haut und ein spitzes Kinn. Doch das Licht in ihren Augen ist schwächer geworden.
»Mutter –«
Bevor ich sie fragen kann, was passiert ist, wird sie von zwei Wachleuten an den Armen gepackt.
»Lasst mich los!«, befiehlt sie, doch ihr Kommando stößt auf taube Ohren.
»Bringt die beiden in den Keller!«, ruft ein Leutnant. Sofort werde auch ich ergriffen. Mutter schreit nach mir, doch die Männer lassen sie nicht zu mir, sondern tragen sie schnell die Treppe hinunter.
»Was ist hier los?«, rufe ich. »Wer greift uns an?«
Draußen vor den Palastmauern ertönt ein noch lauteres Horn. Der Nachthimmel lodert rot. Verschwommen zieht die Welt an mir vorbei, während mich die Soldaten aus Vaters Gemächern schleppen und die Elfenbeintreppe hinuntertragen. Je mehr ich vom Palast sehe, desto mehr Fragen stellen sich mir.
Die makellosen Marmorböden sind verschwunden, ebenso die schlanken Vasen in den Korridoren. Dienstboten und Soldaten eilen über gesprungene Bodenplatten. An den nackten Wänden hängen nur noch einige schiefe Rahmen mit zersprungenem Glas.
Als wir den Treppenabsatz erreichen, traue ich meinen Augen nicht. Der gesamte Ostflügel des Palasts liegt in Trümmern.
Nichts als Schutt und Ruinen.
Das ist ein Traum. Ich schließe die Augen. Ein Albtraum, mehr nicht .
Doch wie oft ich auch blinzele, ich wache nicht auf.
»Was ist hier los?«, rufe ich, aber niemand reagiert. Ich kann nicht einfach davonlaufen und mich verstecken.
Ich muss mir die Antworten selbst suchen.
Ich stemme die Füße in den Boden und stoße mit den Ellenbogen so nach hinten, dass ich die Wachleute an der Kehle treffe. Sie keuchen. Ihr Griff lockert sich, ich reiße mich los und stürze ohne Rücksicht auf ihre Rufe in Richtung Balkon.
Mein Magen krampft sich zusammen. Ich zwinge meine zitternden Beine, mich zu tragen, schiebe die Sandsäcke vor der Balkontür zur Seite und greife nach der Klinke.
Wie konnte das geschehen?
Obwohl ich es mit eigenen Augen sehe, fühlt es sich unwirklich an. Das letzte Mal, als diese Mauern zerstört wurden, war ich noch nicht mal auf der Welt. Damals wüteten Flammentänzer in den Palastfluren und töteten jedes Mitglied von Vaters Familie. Das war der Grund, warum Vater anschließend jede Form von Magie verbieten ließ. Er versprach, dass der Palast nie wieder angegriffen würde.
Als ich den letzten Sandsack entferne und die Tür aufstoße, denke ich an Vaters alte Geschichten. Was für ein Anblick! Mutlos lasse ich die Arme sinken.
Lagos ist verschwunden.
»Nein …«
Ich falle auf die Knie. Es fühlt sich an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich begreife nicht, was für ein Gemetzel hier stattgefunden hat. Meine Stadt sieht aus wie von einem Krieg verwüstet.
Fort sind die pastellfarbenen Gebäude im Händlerviertel. Fort sind die bunten Zelte und Karren auf dem geschäftigen Markt, der an das Viertel anschließt. Stattdessen sehe ich zerborstene Scheiben und zerstörte Häuser. Tote Körper säumen die Straßen.
Die Hälfte der Divîné-Behausungen ist in Flammen aufgegangen, sie füllen die Nacht mit dem beißenden Geruch von Asche. Die Holzwände sind nur noch jämmerliche Stummel. Überall türmt sich Schutt, ein Wall der Zerstörung, der meine Stadt umschließt.
Stolpernd halte ich mir den Bauch, der sich vor Schmerz verkrampft. Ich kann nicht fassen, was ich hier sehe.
Ich kann nicht glauben, dass dies meine Heimat ist.
Das Horn heult lauter als zuvor, und endlich erkenne ich den Grund. Ein Feuerball steigt über Lagos zerstörten Mauern auf, eine rote Kugel, die sekündlich größer wird.
Selbst in mehreren Kilometern Entfernung lässt die sengende Hitze der Flammen meine Haut kribbeln. Das Krachen des Feuers erfüllt die Luft.
Dann explodiert die rote Kugel.
»Bei den Himmeln …«
Ungezählte Feuerbälle fliegen durch die Luft und zerstieben, wenn sie auf dem Boden auftreffen. Mein Körper wird zu Stein. Es ist, als würde es Flammen regnen.
Schreie gellen durch die Nacht. Die Brandbomben zerstören Lagos vollständig. Über dem Palasttor steigen zwei Flammen auf. Ich will nach hinten ausweichen, aber meine Beine bewegen sich nicht schnell genug.
»Runter!«, ruft eine raue Stimme. Starke Arme packen meine Schultern und ziehen mich vom Balkon. Die Stimme des Soldaten lässt mich stutzen. Ich entdecke Brandnarben an seinem Hals.
»Ojore?« Ich traue meinen Augen nicht. Seit mein Cousin von der Marineakademie abgegangen ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Er schleppt mich in den Palast und legt mich auf den Sandsäcken an der Wand ab, um mich mit seinem von einer Rüstung geschützten Körper abzuschirmen, während die Welt draußen in einer blendenden weißen Explosion untergeht.
WUMM !
Der Einschlag erschüttert mich bis ins Mark. Fensterscheiben bersten durch die Druckwelle. Scherben regnen auf unsere Köpfe.
Der Palast erbebt, schwarze Rauchwolken rollen herein. Ich halte mir die summenden Ohren zu, mein Cousin bedeckt meine Nase und zieht mich auf die Füße.
»Alles klar?«
Ich nicke, auch wenn mein Kopf jetzt noch stärker pocht. Was eben noch nicht weh getan hat, schreit jetzt vor Schmerz.
»Was um der Himmel willen war das?«, frage ich.
Ojore hält sich die Nase zu und hustet. Dann zieht er mich in Richtung Keller.
»Die Iyika«, antwortet er. »Willkommen im Krieg.«