Kapitel 15
Zélie
Licht sickert in die Dunkelheit meiner Gedanken und weckt mich auf. Stöhnend erlange ich das Bewusstsein zurück; mein Körper ächzt vor Schmerz.
Mein Kopf dröhnt, als würde eine Herde Rhinozine in meinem Schädel aufeinander losgehen. Immer wieder kommen mir flüchtige Bilder der zerstörten Traumwelt in den Sinn.
»Halt sie fest!«, befiehlt eine Stimme, als ich mich bewege.
Blinzelnd öffne ich die Augen und kann allmählich Gesichter erkennen. Tzain kommt näher und stellt sich in die morgendlichen Sonnenstrahlen. Bei seinem Anblick fällt mir ein, dass ich mit Nailah geflohen bin; ich bin gegen einen Baum geprallt und anschließend in die Traumwelt gestürzt.
»Tzain …« Ich will mich aufsetzen, doch er zwingt mich, liegen zu bleiben. Amari taucht neben ihm auf und hält meine Beine fest, sieht mir aber nicht ins Gesicht. Eine junge Maji mit hohen Wangenknochen und weit auseinanderstehenden Augen kniet zwischen den beiden und drückt ihre dünnen Finger auf meine Brust. Dicke weiße Zöpfe fallen ihr auf den Rücken. Mit heiserer Stimme spricht sie ein Gebet:
»Babalúayé, ṣiṣé nípasè mi. Babalúayé, ṣiṣé nípasè mi.«
Hinter dem Mädchen stehen am Rand des Waldes zwei weitere Maji Wache und beobachten eine aufsteigende Schuttwolke in der Ferne.
»Sie kommen näher, Safiyah«, ruft ein Maji. »Beeil dich!«
»Die Königin?«, brumme ich, doch der Maji schüttelt den Kopf.
»Ihre Tîtánen.«
Als Safiyah mehr Ashê aus ihrem Blut freigibt, wird das orangefarbene Licht um ihre Hände dunkler. Ihre spirituelle Energie bringt ihre Fingerspitzen zum Glühen.
Ich spüre, wie meine eigene Ashê zu fließen beginnt. Eine sengende Hitze ermächtigt sich meines Brustkorbs. Ein spitzer Feuerstrahl bohrt sich durch meine Rippen. Meine Muskeln verkrampfen durch die plötzliche Hitze.
Knack!
Als sich meine Rippen zusammenfügen wie Magnete, zucke ich zusammen. Beim Heilungsprozess reiben meine Knochen aneinander. Ich beiße die Zähne aufeinander, um den Schmerz auszuhalten. Auch wenn es weh tut, lässt der Druck in meinem Brustkorb nach, und ich bin dankbar dafür, dass sich meine Lunge wieder ausdehnen kann. Als die kalte Luft hineinströmt, muss ich an Inan denken.
Er lebt noch.
Ich lege mir die Hand in den Nacken und denke an die Ranken, die ich um seine Kehle geschlungen habe. Ich weiß nicht, wie er den Angriff seines Vaters überlebt hat, doch ich spüre seine Lebenskraft in meinen Eingeweiden. Mein Blick fällt auf Amari, und ich überlege, was ich tun soll.
Wie soll ich ihr sagen, dass ihr Bruder noch lebt, nachdem ich ihr solche Schmerzen zugefügt habe?
»Komm, Safiyah!«
Schweißtropfen rinnen über die braune Haut der Heilerin. Sie löst die Hände von mir, lässt erschöpft den Kopf hängen und atmet langsam und schwer.
»Es tut mir leid«, sagt sie. »Aber wir müssen weiter. Nehandas Tîtánen haben alle Maji östlich von Zaria zusammengetrieben. Ganze Dörfer werden in der Festung von Gusau gefangen gehalten.«
Gusau? Das Dorf befindet sich einige Tagesreisen östlich von uns. Ob die Maji dort in Ketten liegen? Schneidet ihnen das Metall so ins Fleisch wie mir?
»Danke.« Ich lege Safiyah die Hand aufs Knie. Sie lächelt.
»Mein Dank gilt dir, Jagunjagun. Es ist mir eine Ehre, die Kriegerin des Todes zu heilen.«
Bei der Bezeichnung runzele ich die Stirn. Safiyah und die anderen Maji ziehen sich in den Adichie-Wald zurück. Als wir wieder zu dritt sind, schaut keiner den anderen an. Ich zwinge mich, das angespannte Schweigen zu durchbrechen.
»Wie habt ihr mich gefunden?«
Stumm weist Tzain auf Nailah, die sich hinter mir zusammengerollt hat. »Sie kam ganz aufgeregt zu uns gelaufen. Nachdem sie uns zu dir geführt hatte, haben wir Safiyah geholt.«
Mit gerunzelter Stirn betrachte ich die kleinen Wunden im Fell meiner Löwenesse. Steine und Zweige haben ihren goldenen Behang zerrissen. Eine Vorderpfote ist geschwollen und mit einem Verband umwickelt, Nailah hat sie sich verrenkt. Auch wenn es schmerzt, recke ich mich und tätschele ihre Schnauze. Sie schmiegt sich an mich, ihre raue Zunge fährt über meine Stirn.
Ich überlasse sie Tzain, der die Augen schließt und zusammenzuckt, als Nailah ihm das Gesicht leckt. »Willst du dich vielleicht entschuldigen?«
»Wenn du das annimmst …«
Wie auf ein Stichwort wird Nailah stürmischer und überhäuft Tzain mit feuchten Küssen. Er schiebt sie von sich, kann sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.
»Es tut mir leid.« Ich greife nach seiner Hand. »Ich war völlig von der Rolle.«
»Ich schwöre dir bei Baba«, sagt Tzain kopfschüttelnd, »wenn du noch mal einfach so abhaust …«
»Tu ich nicht.« Ich verschränke meine Finger mit seinen und drücke sie. »Du und ich?«
»Du und ich.« Er nickt. »Auch wenn du eine Zicke bist.«
Ich muss grinsen, aber mein Lächeln wird schwächer, als Tzain zu Amari hinüberschaut. Die Ringe unter ihren Augen verraten mir, dass sie die ganze Nacht nicht geschlafen hat. Ihr Gesicht ist noch immer rot vom Weinen.
Sie wendet den Blick ab und fährt sich mit den Fingern durch ihre neuerdings gewellten Haare. Jeden Tag werden sie lockiger. Ich frage mich, ob das an ihrer vor kurzem erwachten Magie liegt.
»Es tut mir leid.« Ich schaue zu Boden, schäme mich für all die furchtbaren Dinge, die ich ihr an den Kopf geworfen habe. »Ich habe das nicht so gemeint. Ich war völlig aufgelöst.«
Amari nickt, ihre Lippen beben dennoch.
Ich entblöße meine schmerzenden Rippen.
»Wenn du willst, kannst du mir eine verpassen.«
»Sind wir dann quitt?«
»Nein, aber es ist ein Anfang.«
Auch wenn Amari weiter meinem Blick ausweicht, umspielt ein schwaches Lächeln ihre Lippen. Ich greife nach ihrer Hand. Tränen steigen ihr in die Augen.
Fast kann ich sehen, wie meine Entschuldigung ein wenig Gewicht von ihren Schultern nimmt, doch das ändert nichts daran, dass wir uns in einem Krieg befinden. Es ändert nichts daran, dass wir nun von unzähligen Soldaten und Tîtánen bekämpft werden. Dass Amari ihre mächtige Mutter vielleicht töten muss.
»Hast du immer noch vor, Nehanda auszuschalten?«, frage ich.
»Ich sehe keine andere Möglichkeit.« Amari lässt die Schultern hängen. »Aber das ist meine Sache. Ich werde dich nicht noch mal darum bitten, mitzumachen.«
»Wir haben darüber gesprochen«, sagt Tzain. »Wenn du Orïsha wirklich verlassen willst, helfen wir dir. Ich fände es zwar nicht gut, aber du hast genug gelitten. Ich verstehe, wenn du frei sein willst.«
Frei .
Schon jetzt ist das Wort nur noch eine ferne Erinnerung. Selbst vom Grab aus hielt Inan mein Herz mit Eisenketten umfangen. Jetzt, da er lebt, schmerzen diese Ketten wie Majazit.
Jenseits der Grenzen von Orïsha wartet keine Freiheit auf mich. Nicht, solange der Prinz noch lebt. Solange er gewinnt.
Wenn ich frei sein will, darf ich nicht davonlaufen.
Dann muss ich ihn umbringen.
»Nein, ich weigere mich, weiter zu fliehen«, sage ich. »Wenn sie Krieg haben wollen, dann sollen sie ihn bekommen.«
Amari legt die Hand auf meinen Oberschenkel und wechselt einen Blick mit Tzain.
»Das verstehe ich nicht«, sagt sie. »Was hat sich geändert?«
Ich spanne die Muskeln an und atme tief durch. Ich will ihr nicht aufs Neue weh tun. Doch sie muss die Wahrheit erfahren. Muss Bescheid wissen über das andere Mitglied ihrer Familie, das uns bekämpft.
»Ich glaube, dein Bruder lebt noch«, sage ich seufzend. »Und ich werde diejenige sein, die ihn tötet.«