Kapitel 16
Amari
Ich glaube, dein Bruder lebt noch.
Die Tage vergehen, doch Zélies Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie lassen mich nicht los. Derweil ziehen wir über die Olasimbo-Bergkette, immer im Schutz der Nacht. Durch Nebelteppiche steigen wir einen Trampelpfad hoch zu einer Stelle, die uns einen guten Blick auf die im Tal gelegene Festung von Gusau ermöglicht. Ich sollte mich darauf konzentrieren, die darin gefangenen Maji zu befreien, damit ich eine Armee aufstellen und meiner Mutter entgegentreten kann, doch ich kann nur an Inan denken.
Falls er wirklich noch am Leben ist, weiß ich nicht, was ich tun soll. Auf gar keinen Fall kann ich zulassen, dass Mutter den Thron von Orïsha einnimmt, aber muss ich die eingekerkerten Maji in der Festung von Gusau auch befreien, wenn Inan König werden sollte? Wird er diesen Krieg weiterführen, wenn er den Thron besteigt?
Als mein Vater sein Schwert in die Eingeweide meines Bruders stieß, spürte ich den Schmerz in meinem eigenen Herzen. Falls Inan wirklich lebt, will ich nicht mehr gegen ihn kämpfen.
Dann will ich ihn in die Arme schließen.
»Du denkst schon wieder an ihn.«
Tzain schließt zu mir auf und sieht mich verständnisvoll an. Ich blinzele. Er schiebt mir eine Locke hinters Ohr und lässt seine Finger meinen Rücken hinuntergleiten.
»Natürlich«, erwidere ich mit gesenkter Stimme und Blick auf Zélie, die vor mir läuft. »Wenn es stimmt, was sie sagt … wenn Inan wirklich noch lebt …«
Allein seinen Namen laut auszusprechen, versetzt mich in die einsamen Nächte nach dem misslungenen Ritual zurück. Mein Schluchzen hallte von den kalten Eisenwänden des Kriegsschiffs wider. Ich weinte so viel, dass meine Bettlaken oft feucht waren.
Trotz allem, was mein Bruder mir angetan hatte, wusste ich nicht, wie ich ohne ihn leben sollte. Was bei den Himmeln soll ich tun, wenn er nun zurück ist?
»Haltet an!« Zélie zwingt uns mit erhobener Hand, stehen zu bleiben. Vor uns in den Zweigen knistert es. Sie greift nach ihrem Stab.
Schritte kommen näher. Mein Herz schlägt schneller. Drei große Schatten erscheinen, doch als sie so nah sind, dass ich sie erkennen kann, bricht es mir das Herz.
Es sind Kinder.
»Arábìnrin , habt ihr etwas zu essen?« Eine junge Maji tritt vor, die größte der drei. Ihre Kleidung ist abgetragen und zerrissen. Ich weiß nicht, ob die Kinder miteinander verwandt sind oder zufällig alle weiße Haare haben.
Zélie greift nach ihrem Lederbeutel, doch ich bin schneller. Ich hole einen Streifen getrocknetes Hyänessenfleisch aus meinem Rucksack. Müssen wir halt noch eine erlegen.
»Danke, Ìyáawa .« Lächelnd teilt das Mädchen das Fleisch unter den dreien auf. Ich frage mich, ob ihre Eltern ihnen aufgetragen haben, allein durch die Gegend zu streifen. Als ich ihnen nachsehe, muss ich wieder an den Krieg denken, an die Gefangenen, die unten im Tal darauf warten, befreit zu werden. Jeden Tag, an dem ich dieses Morden nicht beende, leidet mein Volk mehr.
Inan hin oder her, ich muss meine Mutter aus dem Weg räumen und den Thron besteigen.
»Da unten!« Zélie kriecht an den Rand der Klippe. Unter uns liegt unser Ziel. Die Festung von Gusau ist genauso groß wie die von Gombe, ein ehernes Gefängnis am Rand der Stadt, inmitten von Maniokfeldern. Im Schatten des Gebäudes patrouillieren Wachen. Sie laufen die fackelbeleuchtete Mauer ab, flackernde Flammen scheinen auf ihre strengen Gesichter.
»Öffnet die Tore!«, ruft ein Wächter. Als das Licht auf seine goldene Rüstung fällt, bekomme ich einen Kloß im Hals. Ich bräuchte nicht unter seinen Helm zu schauen, um zu wissen, dass er eine weiße Haarsträhne hat.
Ich schiebe meine eigene Strähne nach hinten. Noch zwei weitere Tîtánen gehen Streife. Ich frage mich, ob sie ebenso viel Magie besitzen wie meine Mutter.
»Guckt mal!« Zélie weist auf einen von Pantheressen gezogenen Wagen, der unten in Sicht kommt. Er hält an, in Ketten gelegte Maji werden herausgetrieben. Mit hängenden Köpfen treten sie durch das Gittertor.
Mein Magen beginnt zu brodeln, als ich die Brandwunden und blauen Flecken auf ihren Körpern sehe. Jedes niedergeschlagene Gesicht löst neue Schuldgefühle in mir aus. Wenn ich Königin wäre, würden diese Menschen frei sein. Gemeinsam würden wir daran arbeiten, das Orïsha meiner Träume zu erschaffen.
»Die Magie ist kaum zurück, und schon nimmt uns deine Familie gefangen.« Zélie macht ein abfälliges Geräusch. Bei der Verachtung in ihrer Stimme zieht sich mein Magen zusammen.
»Mutter ist schnell«, sage ich. »Weshalb wir noch schneller sein müssen.«
Ich weiß, dass Zélie glaubt, ich redete von meinem Bruder, wolle nur seinen Namen nicht aussprechen, aber das ist mir egal. Ich kenne meinen Bruder; wenn er lebt, würde er diese Eskalation auf keinen Fall gutheißen. Er hat zu viel mitgemacht, um wie Vater zu sein.
Wir beide haben zu viel ertragen müssen.
»Wir beobachten die Festung«, beschließe ich. »Finden heraus, wann Wachwechsel und wann der beste Zeitpunkt für einen Angriff ist. Die haben mehr als genug mit ihren Überfällen auf die Maji zu tun. Wenn wir die Gefangenen befreien, haben wir eine gute Grundlage für unsere eigene Armee.«
»Glaubst du wirklich, dass wir stark genug sind?«, fragt Tzain. »Als wir Gombe gestürmt haben, hatten wir Unterstützung von Kenyon und meinen anderen Agbön-Freunden.«
»Und ihr wart nicht im Krieg«, ertönt eine Stimme hinter uns. »Diesmal ist das Militär vorbereitet.«
Mein Schwert fährt durch die Luft, Zélie reißt ihren Stab heraus. Als ein Mann aus den Büschen tritt, lässt sie die Hand sinken.
»Roën?« Zélie macht ein paar Schritte rückwärts. Der Söldner kommt das letzte Stück des Trampelpfads hinauf und lehnt sich gegen einen Baum. Der Mond bescheint eine neue Verletzung auf seiner Wange.
»Na komm, Zïtsōl«, sagt er. »Hast du wirklich geglaubt, es wäre so einfach, mich loszuwerden?«
»Was in aller Himmel Namen tust du hier?« Mit zusammengebissenen Zähnen springe ich vor und suche den Wald ab. »Wie hast du uns gefunden? Wer hat dich geschickt? Wo ist der Rest deiner Leute?«
»Immer mit der Ruhe, Prinzesschen. Du hast gesehen, wie ich arbeite.« Er hebt die Hände hoch. »Wenn ich dich gefangen nehmen wollte, würdest du schon längst in einem Ledersack stecken. Ich habe euch aufgespürt, um etwas wiedergutzumachen.«
»Lügner!« Ich trete auf ihn zu und halte ihm mein Schwert an den Hals.
»Was soll das?«, zischt Zélie mir zu.
»Du weißt nicht, wie er mir nach der Kundgebung gedroht hat.«
Roën schnalzt mit der Zunge und starrt auf meine Klinge. »Dies ist deine letzte Chance, das Ding runterzunehmen.«
Ich verstärke den Druck noch. Ein wenig mehr, und Roën wird bluten.
»Glaubt kein Wort von dem, was er sagt!«, warne ich. »Er ist nur hier, um mich mitzunehmen und das Kopfgeld zu kassieren, das auf mich ausgesetzt wurd-«
Roën packt mein Handgelenk und zwingt mich, das Schwert fallen zu lassen. Mit einer schnellen Bewegung dreht er mir den Arm auf den Rücken. Ich schreie laut auf.
»Wie gesagt …« Er schubst mich zur Seite und stellt sich an den Rand der Klippe. »Wenn ich dich hätte mitnehmen wollen, würden wir dieses Gespräch nicht führen.« Er weist auf die Mauern der Festung und winkt Zélie zu sich. »Die Iyika haben bereits versucht, aus der Festung auszubrechen. Jetzt sind alle Gebäude vorbereitet.«
»Majazitgas?«, fragt Zélie.
Roën nickt. »Überall sind Minen vergraben. Sie sind dreimal so stark wie die Kugeln, die sie bei der Kundgebung benutzt haben. Bevor die Maji ausbrechen könnten, würden sie ersticken.«
»Dann besorgen wir ihnen Masken«, werfe ich ein. »Wir finden eine Möglichkeit, das Gas zu umgehen.«
»Selbst wenn euch das gelänge, würden die Wachen jeden Maji im Kerker töten, bevor sie auch nur einen entwischen ließen.«
Als ich begreife, was er meint, weicht jede Farbe aus meinen Wangen.
»Das kann nicht sein.« Ich schüttele den Kopf. Ich weiß, dass Krieg herrscht, doch selbst Mutter kann nicht so grausam sein.
»Da die Straßen von und nach Lagos gesperrt sind, kann es sich das Militär nicht leisten, noch eine Stadt an die Iyika zu verlieren«, erklärt Roën. »Und es kann auf keinen Fall zulassen, dass die Iyika noch mehr Kämpfer zusammenziehen.«
Ich betrachte die Zweige auf dem Boden. Mein Plan fällt in sich zusammen wie eine Sandburg. Nachdem wir Zélie erfolgreich aus der Festung in Gombe befreit hatten, war ich so überzeugt, dass unsere Strategie aufgehen würde. Gefangene zu befreien, um mit ihnen unsere Armee aufzustellen, sollte die Grundlage für den Angriff sein, der erste Schritt auf meinem Weg zum Thron. Aber wenn Mutter jeden Maji töten lässt, den wir befreien wollen …
Ihr Himmel!
Wir haben es noch nicht mal versucht, und sie hat schon gewonnen.
»Das erklärt immer noch nicht, warum du hier bist.« Tzain tritt zwischen Roën und Zélie. »Sollen wir dir etwa glauben, dass du den ganzen Weg auf dich genommen hast, nur um uns zu warnen?«
»Also, wirklich!« Roën grinst. »Was hätte ich davon? Ich bin hergekommen, weil ich eine Belohnung von den einzigen Menschen in Orïsha erhalte, die euch nicht tot sehen wollen.«
»Ich wusste es.« Ich trete einen Schritt zurück. »Ich gehe nirgends mit dir hin.«
»Gut. Dann bleib hier. Sie wollen eh nur Zélie.«
Roën holt einen Zettel aus der Tasche, und ich erblicke das rote I, das immer wieder unseren Weg kreuzt.
»Die Iyika?« Zélie greift nach dem Pergament. »Die suchen mich?«
»Sie haben mich angeheuert, dich nach Ibadan zu bringen, und sie haben im Voraus bezahlt. Du kannst entweder freiwillig mitkommen, oder ich hole den Ledersack heraus.«
Ich reiße Zélie das Pergament aus den Händen und betrachte die roten Punkte in Form eines I. Ich muss an die Rebellin mit dem vernarbten Auge denken, die mich auf der Kundgebung so hasserfüllt anstarrte.
»Die Iyika wollen mich und den Rest der Monarchie vernichten«, sage ich. »Wir können nicht zu ihnen gehen.«
»Alle wollen deinen Tod.« Roën verdreht die Augen. »Kann ich den Leuten nicht verübeln. Aber warum wollt ihr eure Zeit damit vergeuden, Kämpfer aus dem Gefängnis zu holen, die ihr eh nicht bekommt, wenn ihr euch auch den Maji auf der Siegerseite anschließen könntet?«
Ich sehe Zélie bedeutungsvoll an, doch sie zuckt nur mit den Schultern.
»Was haben wir für eine Wahl?«, fragt sie.
Roën grinst, weil ich mich notgedrungen geschlagen gebe, und bedeutet uns, ihm zu folgen.
»Komm, Prinzesschen! Mal sehen, ob die Iyika dich auch so dringend umbringen wollen wie deine Mutter und meine Söldner.«