Kapitel 17
Inan
Ich betrachte mein Spiegelbild und weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich kenne den Fremden nicht, der mich ansieht.
Dieser gebrochene Junge, der Orïshas König sein soll.
Während ich bewusstlos war, habe ich so viel Gewicht verloren, dass ich in Vaters karmesinroter Agbada fast ertrinke. Die königliche Seide riecht noch immer nach seinem Sandelholzparfüm. Atme ich zu tief ein, fühle ich seine Hände um meinen Hals.
Du bist nicht mein Sohn.
Ich schließe die Augen, mein Magen zieht sich zusammen. Vor Schmerzen knirsche ich mit den Zähnen. Es ist, als stecke Vaters Schwert noch immer tief in mir. Während ich mich auf meine erste Sitzung als König vorbereite, tasten meine Finger suchend nach der Sênetfigur, die mein Vater mir geschenkt hatte. Ich hasse mich dafür, sie zu vermissen.
Noch mehr hasse ich Vater dafür, sie mir geschenkt zu haben.
»Darf ich hereinkommen, Euer Hoheit?« Die Eichentür öffnet sich einen Spaltbreit, und Ojore schiebt sein bärtiges Kinn hinein. »Ich habe Lobgesänge darüber gehört, welch großartige Dinge sich unter euren Gewändern verbergen, aber ich befürchte, ich bin viel zu gering, um sie mit eigenen Augen zu sehen.«
Obwohl ich starke Schmerzen in der Seite habe, schafft es
mein Cousin immer wieder, mich zum Lächeln zu bringen. Ich winke ihn herein, und er lacht, seine Zähne schimmern im dunkelbraunen Gesicht.
»Du siehst gut aus!« Er klopft mir auf die Schulter. »Wie ein König. Und sieh mal da!« Er kneift mir in die Wange. »Du hast sogar ein bisschen Farbe bekommen!«
»Die ist nicht echt.« Ich schiebe ihn von mir. »Mutter hat dafür gesorgt, dass mich die Dienstboten mit Pudern und Pasten bearbeiten.«
»Hauptsache, es verdeckt deine hässliche Visage.«
Die Wärme, die Ojore in Vaters kühle Gemächer bringt, schreckt etwas in mir auf. Mein großer, schlanker, hübscher Cousin in seiner Admiralsrüstung ist ein Bild von einem Mann, doch mir entgehen die Brandnarben an seinem Hals nicht.
Seit er an der Marineakademie mein Kapitän war, haben wir uns nicht mehr gesehen, dennoch kommt er mir immer noch wie der Bruder vor, den ich nie hatte. Ojore scheint meine Gedanken lesen zu können, denn er legt mir einen Arm um die Schultern und schaut mit mir in den Spiegel.
»Der Admiral und der König.« Er schüttelt den Kopf, ich grinse.
»So wie wir es uns immer ausgemalt haben.«
»Na ja, nicht ganz.« Ojore zerzaust mir die Haare, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf meine weiße Strähne. Auch wenn er sich locker gibt, kann er seine Verachtung nicht verhehlen.
»Du hasst diese Strähne«, bemerke ich.
»Sie schon.« Er wendet den Blick ab. »Aber dich nicht.«
Im Spiegel betrachte ich die weiße gekräuselte Linie, das Zeichen meines Fluchs. Seit ich aus der Ohnmacht erwacht bin, fühlt es sich jedes Mal an, als würde mir jemand mit einer Axt in den Schädel schlagen, wenn ich meine Magie anzurufen
versuche. Ich weiß nicht, ob es an den Verletzungen liegt, die Zélie mir in der Traumwelt zugefügt hat, oder ob sich meine Gabe nach dem heiligen Ritual verändert hat.
Nach allem, was geschehen ist, bin ich mir nicht mal sicher, ob ich meine Magie überhaupt noch benutzen will. Wie kann ich das tun, wenn sie der Grund dafür ist, dass mein Vater mich auslöschen wollte?
»Was ist mit den Tîtánen in deinen Reihen?«, frage ich. »Mutter war nicht die Einzige, die eine goldene Rüstung trug.«
»Es herrscht Krieg. Sollen wir uns ihrem Feuer mit Schwertern stellen?« Ojore reibt mit dem Daumen über seine Brandwunden, die nach so vielen Jahren noch schuppen. »Vielleicht brauchen wir die Tîtánen noch, um die Maden endgültig auszumerzen, trotzdem ist und bleibt die Magie ein Fluch.«
Fast hätte ich gelacht; noch vor einigen Monden hätte ich dasselbe gesagt. Doch nach allem, was ich erfahren habe, ist mir klar, dass Ojore die Magie gar nicht anders sehen kann. Seit dem Tag, als Flammentänzer im Palast wüteten und seine Eltern bei lebendigem Leib verbrannten, steht seine Meinung fest. Er kann von Glück sagen, mit seinen Verletzungen entkommen zu sein.
»Ich dachte, sie hätten dich auch erledigt.« Ojores Stimme wird leise, er senkt den Blick. »Als ich dich im Tempel fand, hattest du unglaublich viel Blut verloren. Auch als du erst mal gerettet warst, dachte ich, du würdest nie wieder aufwachen.«
Ich denke an die Traumwelt zurück. An das welkende Schilf. Den grauen Dunst. Wenn Zélie mich nicht gefunden hätte, wäre ich vielleicht für immer dort geblieben.
»Ich verdanke dir mein Leben.«
»Von wegen! Du hast mir noch viel mehr zu verdanken! Wenn der Krieg vorbei ist, will ich einen Titel. Und Gold. Land!«
Kopfschüttelnd muss ich lachen. »Bei dir klingt es, als sei das Ende nah.«
»Du bist zurück, mein König. Jetzt ist es nah.«
»Inan?«
Ich drehe mich um. Ich hatte nicht gehört, dass die Tür geöffnet wurde. Mutter steht im Rahmen. Die Sonne fällt auf ihr karmesinrotes Gewand. Der perlenbesetzte Stoff zieht sich über ihre Schultern und fällt als Umhang über ihren Rücken. Als sie Vaters Gemach betritt, sieht es fast aus, als würde sie schweben.
Ojore pfeift leise. »Selbst in Kriegszeiten weiß meine Tante zu beeindrucken.«
»Übertreib nicht, Junge.« Mutter kneift die Augen zusammen, aber fasst Ojore lächelnd ans Kinn. Auch wenn die beiden nicht blutsverwandt sind, könnte er ohne weiteres ihr Erstgeborener sein. Als seine Familie ausgelöscht wurde, nahm sie ihn auf und zog ihn groß, bis er allein zurechtkam.
»Die Sitzung findet im Thronsaal statt«, sagt Mutter zu mir. »Wenn du so weit bist – wir sind bereit.«
»Aber ist es im Keller nicht am sichersten …«
Mutter unterbricht mich mit einer Handbewegung. »Dein Volk wird seinen neuen König so kennenlernen, wie es die Tradition vorschreibt. Nicht heimlich im Dunkeln.«
Ojore nickt anerkennend. »Du lässt nichts anbrennen, Nehanda.«
»Wir können uns kein Zögern leisten«, gibt Mutter zurück. »Der gesamte Hofrat ist da, vor allem Generalin Jokôye. Wenn du die Armee kommandieren willst, die du brauchst, um diesen Krieg zu gewinnen, musst du dich vor den anderen beweisen.«
Mein Hals wird trocken, ich muss schlucken. Wenn ich doch mehr Zeit zur Vorbereitung hätte. Ich weiß, dass ich Lagos und Orïsha vom Zorn der Iyika befreien muss, doch die Aufgabe
erscheint mir übermächtig. Wie soll ich die Revolutionäre angesichts von Straßenblockaden, schwindendem Lebensmittelnachschub und der Ungewissheit, wann die Feuerbomben wieder zuschlagen werden, aufhalten, wo ich nicht mal das erneute Aufkommen der Magie verhindern konnte?
»Und jetzt das i-Tüpfelchen.« Mutter schnippt mit ihren schimmernd lackierten Fingernägeln; ein Dienstbote betritt das Gemach. Er trägt ein Samtkissen mit Vaters Krone. Beim Anblick des glänzenden Golds zieht sich mein Bauch schmerzhaft zusammen.
»Ich warte draußen.« Ojore klopft mir auf den Rücken, dann geht er. »Du bist so weit. Dein Vater wäre stolz auf dich.«
Trotz meiner inneren Qualen setze ich ein Lächeln auf. Als Mutter die Krone nimmt und mir ein Zeichen gibt, mich zu bücken, droht es mir jedoch zu entgleiten. Das funkelnde Metall gleicht einer zweistöckigen Torte, jede Unze dieses königlichen Erbstücks ist aus purem Gold. Darauf prangt eine diamantenbesetzte Elefantesse – das ursprüngliche königliche Wappentier. Obenauf strahlt ein roter Rubin, dunkel wie Blut.
»Ich weiß.« Beim Anblick der Krone wird Mutters Blick wehmütig. »Wenn ich könnte, würde ich sie vernichten.«
»Zumindest brauchst du nicht seine Sachen zu tragen.«
»Sobald ich Zeit habe, lasse ich dir neue Gewänder schneidern.« Sie setzt mir die Krone auf und sieht mich an. Ihre harte Schale bricht auf. Sie drückt die Finger auf die Lippen und atmet hörbar aus.
»Bei den Himmeln, Mutter, bitte nicht weinen!«
Sie macht eine wegwerfende Handbewegung und richtet meinen Kragen. Zwar nervt es mich, welches Aufheben sie um mich macht, aber ihr Lächeln macht mich glücklich.
»Dein Vater war alles andere als ein guter Mann«, sagt sie.
»Aber er war ein guter König. Er hat seinen Thron um jeden Preis geschützt. Als sein Nachfolger musst du dasselbe tun.«
Sie legt die Hände auf meine Schultern, dreht mich zum Spiegel um und schaut uns beide an. So kommt mir der Mensch, der mich ansieht, schon vertrauter vor.
»Ich will nicht so sein wie er, Mutter. Ich kann nicht.«
»Du bist nicht wie dein Vater, Inan.« Sie packt mich am Arm. »Du bist der König, der er nicht sein konnte.«