Kapitel 19
Zélie
Ich weiß nicht, ob ich schon einmal so heftig geweint habe wie in Mama Agbas Armen. Der Duft frischen Stoffs steigt mir in die Nase und beschwört Erinnerungen an meine Heimat herauf. Bei ihrer Umarmung denke ich an die krachenden Wellen von Ilorin, an das Klacken von aufeinandertreffenden Holzstäben. Ein Schluchzer entringt sich mir. Ich umklammere sie, voller Angst, dass der Traum vorbei ist, wenn ich loslasse.
»Pèlé«
, flüstert mir Mama Agba in die Locken und legt ihr Kinn auf meinen Kopf. Sie reibt mir über den Rücken und stößt ein leises Lachen aus. »Ist gut, mein Kind. Ich bin doch da.«
Ich nicke, umarme sie aber noch fester; ich habe das Gefühl, den Geist meiner Mutter in Alâfia in den Armen zu halten. Ich hatte Mama kaum zurück, da war sie auch schon wieder entschwunden. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich noch mal jemanden auf diese Weise verliere.
»Guck dir deine Haare an!« Unter Tränen lachend berühre ich die krausen weißen Löckchen auf ihrem Kopf.
»Eine kleine Kämpferin hat die Magie zurückgebracht.« Sie lächelt mich an. »Da wollte ich mich nicht länger verstecken.«
Ich registriere ihre Altersflecken, die Falten ihrer dunkelbraunen Haut. Sie humpelt stärker, als ich in Erinnerung habe, aber sie ist es wirklich. Sie ist tatsächlich hier.
»Komm mit!« Mama Agba drückt mir einen Kuss auf die
Stirn, bevor sie sich erhebt, um Amari und Tzain zu begrüßen. Ich wische meine Tränen ab und sehe mir die Soldaten hinter ihr genauer an. Alle haben weiße Locken wie ich. Ihre Haut glänzt in einem Spektrum verschiedener Brauntöne.
Der junge Seelenfänger mit den großen Ohren und hellen Augen tritt ungläubig grinsend vor.
»Was war das eben für eine Beschwörung?«, frage ich ihn. »So einen großen Schemen habe ich ja noch nie gesehen!«
»Das können alle Seelenfänger in meiner Familie!« Der Junge strahlt vor Stolz. »Anstatt viele Einzelne zu machen, setzen wir sie zu einem großen zusammen.«
»Das ist unglaublich.«
»Du bist unglaublich!« Er presst die Lippen aufeinander, ich weiche zurück. Der Maji fällt auf die Knie und verbeugt sich vor mir. »Jagunjagun Ikú
, ich flehe dich an: Lass mich dein Adjutant sein!«
»Bei den Göttern, Mâzeli!«, lacht eine Maji mit Perlen in den weißen Zöpfen. »Sie ist gerade erst angekommen. Lass ihr ein paar Minuten Zeit.«
»Hör nicht auf sie!« Mit weit aufgerissenen Augen greift Mâzeli nach meiner Hand. »Ich werde dir treu dienen, bis ich deinen Platz als Stammesältester der Seelenfänger einnehmen darf. Aber bis dahin haben wir uns längst ineinander verliebt.« Ich will ihm die Hand entziehen, doch er lässt nicht los. Seine Stimme wird höher. »Du wirst die Mutter meiner Kinder. Ich werde unserer Familie bis zu meinem letzten Atemzug dienen …«
»Es reicht«, unterbricht Mama Agba Mâzeli und tätschelt seine Wange. »Die Militärpatrouille kommt bald vorbei. Wir führen dieses Gespräch besser hinter schützenden Mauern fort.«
»Ist der immer so?«, flüstere ich Mama Agba zu, als wir losgehen.
»Wie alle angehenden großen Seelenfänger ist Mâzeli sehr willensstark.«
Ich muss grinsen, bis ich bemerke, dass Roën sich zurückfallen lässt. Ein Maji reicht ihm einen Sack Goldstücke. Als Roën am Rand des Regenwalds stehen bleibt, fällt etwas in mir zusammen.
»Das war’s?« Ich sehe ihn an. »Bist du wieder weg?«
»Aufgabe erledigt. Ich muss mich mit meinen Leuten in Lagos treffen.«
»Lagos?«, sage ich. »Du arbeitest für die andere Seite?«
»In einem Krieg ist viel Geld zu verdienen, Zïtsōl. Wenn du mit dieser ganzen Kämpferei aufhörst, bleibt vielleicht auch für dich noch was hängen.«
Ich schüttele den Kopf; keine Ahnung, warum ich mehr von Roën erwartet habe. »Stehst du für irgendetwas anderes als Gold?«
»Ich stehe hier vor dir, oder?« Roën beugt sich so weit vor, dass ich die blassen Sommersprossen auf seinen Wangenknochen sehen kann.
»Keine Sorge.« Seine Lippen streifen mein Ohr. »Irgendwas sagt mir, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden.«
Die Maji verlassen den Hauptweg im Dschungel und führen uns an einem rauschenden Fluss entlang. Er teilt den Regenwald in zwei dichte grüne Hälften. Die Hügel schicken uns den Geruch von frischer Erde und Wildblumen. Mammutbäume säumen unseren Weg; ihre smaragdgrünen Laubdächer spenden uns Schatten.
Ich halte Mama Agba fest an der Hand und krieche mit ihr
unter hohen Luftwurzeln hindurch. Tzain und Amari bleiben dicht bei uns. Wir drei hören aufmerksam zu, während Mama Agba uns erklärt, wie die Iyika entstanden sind.
»Ich verstehe das immer noch nicht«, sagt Tzain. »Du hast den Aufstand angezettelt?«
»In gewisser Weise schon.« Mama Agba nickt. »Eigentlich wollten wir uns nur verteidigen. Euer Vater und ich waren gerade auf halbem Weg nach Oron, als ich eine Vision von euch dreien in der Siedlung der Divînés hatte. Wir waren nicht rechtzeitig da, um den Angriff der Monarchie abzuwehren, aber wir haben die Überlebenden gefunden und um uns geschart.« Wir steigen über einen umgestürzten Baumstamm, Mama Agba stützt sich bei mir ab. »Wir wollten sie hier zusammenbringen, da wurden wir erneut von Soldaten angegriffen.«
Sie verstummt, und ich muss an den Tod von Zulaikha und Salim denken. Tzain und ich tauschen einen Blick. Allmählich ergibt alles einen Sinn. So gelangte Baba in Inans Gewalt. Deshalb starb unser Vater.
»Ich schwöre euch, dass wir uns mit allen Mitteln verteidigt haben«, sagt Mama Agba und seufzt.
»Aber euer Vater wollte keine Verletzten oder Toten. Er bot sich den Soldaten als Geisel an, und die erklärten sich einverstanden, uns dafür am Leben zu lassen.«
Vor meinem inneren Auge brennt Babas Sarg. Obwohl wir gerade an Dämmerblumen vorbeigehen, steigt mir der Geruch von Asche in die Nase.
»Es tut mir so leid.« Mama Agba schüttelt den Kopf. »Mehr als ihr euch vorstellen könnt.«
»Schon gut.« Ich drücke ihre Hand. »Es war nicht deine Schuld.«
Mir steht vor Augen, wie Inan Baba in den Tod führte, und
ich weiß wieder, warum ich hier bin. Mit Hilfe der Iyika können wir Inan und Nehanda ausschalten. Dann kann ich die Hände um seinen Hals legen und endlich zudrücken.
»Nachdem das Lager zerstört war, wurde uns klar, dass wir einen Ansatzpunkt hatten«, erzählt Mâzeli Mama Agbas Geschichte weiter. »Außer uns wusste ja niemand, dass die Magie zurückkommen würde. Mit diesem Wissen haben wir einen Angriffsplan entworfen.«
»In der Nacht der hundertjährigen Sonnenwende versammelten wir viele Maji um uns und belagerten die Mauern von Lagos«, mischt sich eine zierliche Maji ein. »In dem Moment, als die Gabe zurückkehrte, haben wir die Stadt gestürmt. Die Monarchie wusste nicht, wie ihr geschah.«
Amari fällt die Kinnlade hinunter, ich kann nur staunen. Unfassbar, wie alle darauf vertrauten, dass ich die Magie zurückbringen würde. Kaum zu glauben, dass mein Opfer meinem Volk tatsächlich ermöglicht hat zu kämpfen.
»Wie war das?«, frage ich.
»Wunderbar«
, flüstert Mâzeli. »Wenn Nehanda nicht gewesen wäre, hätten wir auch den Palast eingenommen. Aber jetzt, da du hier bist, werden wir die Verteidigungswälle durchbrechen! Mit der Kriegerin des Todes auf unserer Seite entscheiden wir den Krieg für uns!«
Die Maji brechen in Jubel aus, der auch dann nicht abebbt, als wir an eine gewaltige Klippe geraten. Ein großer Erdsänger tritt vor.
»Das ist der Älteste Kâmarū«, stellt Mama Agba ihn vor und nennt ihm dann unsere Namen. Auf der dunklen Haut des Erdsängers glitzert ein silberner Nasenring. Sein dichtes weißes Haar steht in kleinen wilden Löckchen von seinem Kopf ab. Vom rechten Oberschenkel abwärts trägt er eine Prothese
aus Eisen. Ich weiche vor ihm zurück, doch er hält inne, um sich vor mir zu verbeugen. Sein eisernes Knie berührt den Boden.
»Die Erzählungen werden dir nicht gerecht«, sagt er. Ich erröte. Mâzeli tritt zwischen uns.
»Kâmarū, es interessiert mich nicht, dass du doppelt so groß bist wie ich. Verzieh dich!«
Der Erdsänger tritt lächelnd zurück. Sein Nasenring schimmert. Er legt seine großen Hände auf den Felsen und drückt dagegen.
»Das Atmen nicht vergessen!« Mama Agba nickt ihm zu. Ihr belehrender Tonfall ist uns allen vertraut. Kâmarū schließt die Augen und atmet tief aus. Dann beginnt er zu deklamieren.
»Se ìfé inú mi …«
Während er die Beschwörungsformel spricht, rühre ich mich nicht. Es ist Jahre her, dass ich den gleichmäßigen Rhythmus der Erdsänger gehört habe.
Ein smaragdgrüner Schein umgibt Kâmarūs Beine und steigt zu seinen Händen hoch. Als er die Finger in den harten Fels gräbt, zischt es laut.
»Die Beine breiter!«, ruft Mama Agba, Kâmarū gehorcht. Das Grün des Berghangs rutscht hinunter, der dichte Teppich aus Schlingpflanzen und Lianen teilt sich.
Steinchen und Erdbrocken rieseln zu Boden. Kâmarū tritt zurück. Mit einem Stöhnen öffnet sich der Berg. Ich halte die Luft an. Sonnenlicht fällt in den schmalen Spalt und beleuchtet den Anfang einer ins Unendliche reichenden Treppe. Hoffnung keimt in mir auf.
Die Iyika sind viel mächtiger, als mir klar war.
»Hervorragend!« Mama Agba klopft Kâmarū auf den Rücken. Ihre braunen Augen glänzen vor Aufregung, wie ich es seit
Jahren nicht mehr bei ihr gesehen habe. Sie geht zur Seite und macht uns Zeichen, vor ihr die Treppe hochzugehen.
»Bitte!« Sie schiebt mich zur ersten Stufe. »Willkommen bei den Rebellen!«