Kapitel 20
Amari
»Was bei den Himmeln …«
Als wir aus der langen Klamm treten, fällt mir die Kinnlade hinunter. Vor uns erheben sich drei abgeflachte Berge, die ein Dreieck bilden. Sie reichen so hoch in den Himmel, dass es den Eindruck macht, als würden wir über den Wolken schweben. Auf jedem Berg stehen mehrere eindrucksvolle Tempel und Türme aus glänzend schwarzem Stein.
»Das alles habt ihr innerhalb eines Monds gebaut?« Blinzelnd sieht sich Tzain um. Mama Agba lacht aus vollem Hals.
»Die Ile Ijosin wurde vor vielen Jahrhunderten von den Altvorderen erschaffen, den ersten Anführern der zehn Maji-Stämme. Als ich die Älteste der Seher war, wurde ich zum ersten Mal hergebracht. Dieses Sanktuar ist fast so alt wie Orïsha selbst.«
Ich atme den Duft der üppigen Vegetation ein, die Dämmerblumen würzen die Luft. In der Mitte der drei Berge stürzt ein rauschender Wasserfall in die Tiefe und bildet einen natürlichen Badeteich, in dem junge Divînés planschen. In der Ferne ragen spitze Klippen wie steinerne Dornen in die Höhe und durchstechen den Wolkenteppich. Der Anblick verschlägt mir den Atem. Es ist, als könnte der Krieg uns hier nichts anhaben.
»Da drüben!« Mama Agba weist auf einen hoch aufragenden Turm aus schwarzem Obsidian links von uns. Zehn Stockwerke türmen sich übereinander wie riesige zusammengeschweißte Schmuckstücke. »Wir haben eine Krankenstation angebaut, aber es sind immer noch die alten Meditationszentren und Gärten. Auf dem zweiten Berg sind wir gerade dabei, alte Türme in Schlafsäle umzuwandeln.«
Sie weist auf eine Steinbrücke, die zwei Berge miteinander verbindet. Der zweite Berg ist größer als der erste, dort tummeln sich mehrere halbfertige Bauten. Als wir uns zu den Schlafsälen begeben, holt mich die Erinnerung an Zulaikha ein. Ich muss daran denken, wie sie uns durch das Lager der Divînés führte. Die bunten Zelte und schlichten Karren dort waren sichtlich das Werk von Menschenhand. Dieser Ort hier sieht aus wie ein von den Göttern geschaffenes Königreich.
»Stell dir vor, dass es in ganz Orïsha heilige Orte wie den hier gäbe«, flüstere ich Tzain zu. »Oder ganze Städte, die so gebaut werden.«
»Wenn du auf dem Thron sitzt, kannst du das alles Wirklichkeit werden lassen.«
Bei seinen Worten wird mein Herz ganz weit, doch sie erinnern mich auch daran, warum ich hier bin. Zusammen mit den Kämpfern der Iyika kann ich Mutter unschädlich machen. Gemeinsam können wir ein neues Orïsha errichten.
»Bevor ich es vergesse!« Mama Agba greift nach Tzain und wendet ihn dem dritten Berg zu, dem größten der drei. Von dort stürzt das Wasser in die Tiefe. Zehn Tempel säumen einen spiralförmig angelegten Weg, jeder für einen Clan. »Mir wurde gesagt, wenn du ankommst, soll ich dich zum Tempel der Flammentänzer schicken. So wie ich gehört habe, hast du Agbön gegen ihren Ältesten gespielt?«
»Kenyon?« Tzains Gesicht leuchtet auf. »Er ist hier?«
Seit wir nach dem Ritual getrennte Wege gingen, haben wir seine alten Agbön-Freunde nicht mehr gesehen. Wenn die Agbön-Spieler nicht gewesen wären, hätten wir Zélie nicht befreien können, als mein Vater sie gefangen hielt.
»Was ist mit den Zwillingen?«, fragt Zélie. »Sind Khani und Imani auch hier?«
»Khani ist die Älteste der Heiler.« Mama Agba nickt. »Imani ist ihre Adjutantin. Die zwei waren es, die die Krankenstation auf dem ersten Berg errichtet haben.«
»Komm!« Tzain schiebt Mama Agba in Richtung des dritten Bergs, ehe sie es sich anders überlegen kann. Er winkt uns zu. »Wir sehen uns später!«
Ich amüsiere mich über seine Aufregung. Mâzeli übernimmt die Aufgabe, uns weiter herumzuführen. Als wir losgehen, zähle ich stumm die Iyika, die sich hier aufhalten. Meine Gedanken kehren zu Nehanda und dem Krieg zurück. Die Iyika unterscheiden sich von den Divînés dadurch, dass sie Messingrüstungen tragen, deren Metallplatten an Mama Agbas Schnittmuster erinnern. Metallisch schimmernde Armstulpen und Schulterpolster glänzen in den Farben der zehn Maji-Clans.
Zwölf … achtundzwanzig … zweiundvierzig … siebenundfünfzig … neunundsiebzig … Unter dem roten Symbol der Iyika habe ich mir immer eine Bande unorganisierter Rebellen vorgestellt, doch die achtzig hier lebenden Kämpfer sind einsatzbereit und sehr gut organisiert. Was ich sehe, ist deutlich besser als alles, was ich zu hoffen wagte. Wenn ich diese Maji auf meine Seite bekomme, kann ich den Krieg deutlich schneller beenden als gedacht.
»Jagunjagun!«
Eine dunkelhäutige Maji kommt auf uns zu. Wir bleiben stehen. Ihr kahlrasierter Schädel zieht alle Blicke auf sich. Drei silberne Kreolen baumeln an ihrem rechten Ohr.
»Kâmarū hat nicht gelogen«, sagt sie. »Du bist wirklich hübsch.«
Ihr neckisches Lächeln bringt ihre breite Nase und die vollen Lippen zur Geltung. Sie verbeugt sich vor mir und senkt das Knie zu Boden, so dass wir die kunstvollen Tätowierungen auf ihrem rechten Arm bewundern können.
»Ich bin Nâomi«, stellt sie sich vor. »Aber meine Freunde nennen mich Nâo, also könnt ihr das auch tun.« Sie legt ihren tätowierten Arm um Zélies Hals und zieht sie von Mâzeli fort.
»Was soll das?«, ruft Mâzeli. »Mama Agba will, dass ich sie herumführe.«
»Das kannst du später noch tun. Sie muss Ramaya und die anderen Ältesten kennenlernen!«
Nâo zieht Zélie mit sich fort. Ich will ihnen nachgehen, doch Mâzeli hält mich am Arm fest.
»Willst du wirklich mit?«, fragt er. »Die Ältesten sind nicht gerade begeistert von dir.«
Sein Blick wandert zu meiner weißen Strähne. Ich werde rot. Als ich mir vorstelle, den Maji gegenübertreten zu müssen, die Lagos gestürmt haben, sammelt sich Schweiß an meinen Schläfen.
»Die Ältesten leiten dieses Sanktuar?«, frage ich.
»Ja, und die Iyika.« Mâzeli nickt.
»Dann habe ich keine andere Wahl. Bring mich zu ihnen!«