Kapitel 22
Amari
Als uns Nâo und Mâzeli an den langen Schlafsälen und noch nicht fertigen Türmen des Sanktuars vorbeiführen, bin ich auf alles gefasst. Am zweiten Berg der Iyika sammeln sich die Bewohner. Die Nachricht von unserer Ankunft hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet.
»Aus dem Weg!« Mâzeli genießt die Aufmerksamkeit. »Hier kommt die Kriegerin des Todes!«
Immer wieder hören wir diesen Titel, wenn Zélie sich nähert, er wird ehrfurchtsvoll geflüstert. Die Leute starren sie an, als sei sie eine Göttin. Mich behandeln sie wie ein lästiges Insekt.
Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass alle wissen, wer ich bin, oder weil ich eine weiße Haarsträhne habe. Als wir durch den mit Ranken bewachsenen Bogen des höchsten Turms gehen, versuche ich, die Strähne zu verstecken.
»In den oberen Stockwerken wohnen die Ältesten«, erklärt Nâo. »Das Erdgeschoss benutzen wir zum Essen.«
»Den Himmeln sei Dank!« Beim Geruch von würzigem Hühnchen und gebratenen Bananen läuft mir das Wasser im Mund zusammen. An der hinteren Wand stehen große Platten mit Jollof-Reis; hier ist mehr Essen, als ich seit Monden gesehen habe. Doch als Nâo uns zu dem Tisch der Ältesten ganz hinten führt, vergeht mir der Appetit. Obgleich die fünf Clanführer, die
dort sitzen, dieselben Rüstungen wie ihre Clanmitglieder tragen, strahlen sie eine natürliche Autorität aus.
»Hoher Rat, erlaubt mir, euch die Zukunft des Seelenfänger-Clans vorzustellen!« Mâzeli ist nicht zu bremsen. »Die Legende dieser Lande. Die zukünftige Mutter meiner drei Söhne …«
»Sei still, Mâzeli!« Nâo gibt dem Jungen einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und setzt sich auf einen freien Hocker. »Ihr Ältesten, endlich ist die Kriegerin des Todes da.«
Die Clanführer unterbrechen ihr Gespräch und schauen Zélie an. Sie ist angespannt. »Jagunjagun Ikú!«
, hallt es durch die Kantine.
Ich räuspere mich und warte darauf, dass ich vorgestellt werde, aber es ist, als sei ich gar nicht da. Nicht einer scheint sich für mich zu interessieren.
»Jagunjagun!«
Ein Mädchen mit einer Narbe über dem linken Auge ergreift das Wort. Sie ist ein paar Jahre älter als wir und sitzt mit dem Rücken zur Wand, einen Arm ums Knie geschlungen. Der Schopf weißer Locken, ihre hellbraune Haut und die Sommersprossen auf ihrer breiten Nase kommen mir bekannt vor. Mir fällt die Kinnlade hinunter. Ich habe sie schon mal gesehen.
Es ist die Rebellin von der Kundgebung!
Es ist das Mädchen aus dem Publikum, das rote Farbe an den Händen hatte und mich finster anfunkelte. An der Art, wie die anderen sie reden lassen, erkenne ich, dass sie die heimliche Anführerin ist.
»Ich bin Ramaya.« Sie sinkt auf ein Knie. »Älteste des Geistwandler-Clans. Es ist mir eine Ehre, die Kriegerin kennenzulernen, die unsere Magie zurückgebracht hat.«
»Das war ich nicht allein.« Zélie weist auf mich. »Ich hatte jede Menge Hilfe.«
Ramayas Blick huscht in meine Richtung, doch sie schaut durch mich hindurch, als sei ich aus Glas. Ich schäume innerlich, als sie näher an Zélie herantritt und die Hand ausstreckt: »Wir freuen uns darauf, dich im Ältestenrat zu begrüßen.«
»Oh, ich weiß noch nicht, ob ich am Rat teilnehme«, sagt Zélie. »Eigentlich bin ich nur hier, um den Krieg zu gewinnen.«
»Der Sieg ist nur der Anfang«, gibt Ramaya zurück. »Mit deinen Kräften können wir Nehanda und ihre Tîtánen vernichten. Wenn die Monarchie erst einmal aus dem Weg geräumt ist, ist der Thron für dich frei.«
»Was? Moment mal …« Zélies Kopf fährt herum, wir sehen uns an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir versagt die Stimme.
»Wer sonst soll uns anführen, wenn nicht die Kriegerin des Todes?«, fragt Ramaya.
Mit trockenem Hals trete ich vor, ein zaghafter Versuch, mich in das Gespräch einzuschalten. Doch bevor ich ein Wort herausbekomme, stürzt eine weitere Älteste herbei. Es ist eine Zähmerin.
»Es gibt Nachricht aus Lagos!« Sie setzt sich, ein rundliches Mädchen mit breiten Schultern und üppigen Kurven. Sonnenblumen stecken in ihrem Lockenkopf, umschwirrt von winzig kleinen Kolibris. Die Rüstung der Zähmerin schimmert rosa.
Der gelbe Kolibri auf ihrer Schulter reicht ihr ein kleines Pergament, das sie an Ramaya weitergibt.
»Das muss ein Scherz sein!« Ramayas Gesichtszüge entgleisen, als sie die Nachricht liest. »Der Prinz lebt?«
Inan?
Ich beuge mich vor, versuche, die schwarze Tinte zu lesen.
»Ja.« Die Zähmerin verdreht die Augen. »Adelige sind wie
Kakerlaken. Man wird sie einfach nicht los.« Sie sieht Zélie an, nickt und wirft ihre weißen Locken nach hinten. »Ich bin Na’imah«, stellt sie sich vor. »Ich würde mich verbeugen, aber ich verbeuge mich vor niemandem.«
»Das ergibt doch keinen Sinn.« Ramaya schüttelt den Kopf. »Warum soll der König jedem Maji, der die Seite wechselt, Gold und Essen bieten?«
Zélie greift nach dem Pergament, doch ich komme ihr zuvor und reiße es Ramaya aus der Hand, die sofort eine Abwehrhaltung einnimmt. Ich überfliege die Nachricht. Auch die Geistwandlerin kann dieser Botschaft nicht ihre Schönheit nehmen. Inans Versprechen, sein kühnes Friedensangebot berühren mich so, dass ich die Hand aufs Herz lege. So etwas habe ich noch von keinem Monarchen gelesen.
Ich wusste, dass er ein großartiger König werden könnte.
»Sieh mal, Zélie!« Ich drücke ihr das Pergament in die Hände und versuche, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken. »Er hält Wort!«
Meine Gedanken beginnen sich zu drehen. Ich überlege, was Inans Angebot bedeuten könnte. Ich dachte, ich bräuchte Macht, um Mutter von Orïshas Thron zu stoßen und ein Königreich aufzubauen, in dem die Maji sicher sind. Aber wenn Inan bereit ist, den Iyika Amnestie zu gewähren, müssen wir vielleicht gar nicht kämpfen.
Wenn ich nur mit ihm sprechen könnte! Dann könnten wir vielleicht eine Übereinkunft aushandeln, die beide Seiten zufriedenstellt. Unter den richtigen Bedingungen könnten wir sowohl die Monarchie wie die Maji dazu bringen, die Waffen niederzulegen!
»Du hast den König gesehen.« Ramaya schaut Zélie an. »Was hältst du von seinem Angebot?«
Zélies Gesicht wird hart. Sie wirft das Pergament zu Boden. Mein Magen zieht sich zusammen.
»Wenn das Prinzchen den Maji Essen anbietet, dann wird es vergiftet sein!«
»Zélie, nein!«, flüstere ich, doch die anderen Ältesten scheinen diese Antwort von ihr erhofft zu haben.
»Er versteht sich gut auszudrücken, aber man wäre ein Narr, ihm irgendetwas zu glauben.«
»Was sollen wir tun?« Na’imah beugt sich vor. »Wie reagieren wir?«
»Sie haben nur begrenzte Vorräte«, sagt Zélie. »Wir stecken sie in Brand und lassen sie verhungern.«
»Nein!« Ich dränge mich an den anderen vorbei und stütze die Hände auf den Tisch. »Wenn ihr die Vorräte verbrennt, gefährdet ihr nicht nur das Volk von Lagos! Dann sorgt ihr dafür, dass der Krieg eskaliert, den der König beenden will!«
Die gesamte Kantine verstummt. Ramaya sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an, als würde sie sich wundern, dass ich überhaupt sprechen kann.
»Entschuldigung.« Ich räuspere mich. »Ich habe mich nicht vorgestellt.«
»Oh, ich weiß sehr gut, wer du bist!« Die Kälte in Ramayas Stimme fährt mir in die Glieder. »Deine Mutter ist der Grund, warum wir Lagos verloren haben. Dein Vater ist der Grund für meine Narbe.« Sie steht auf, die anderen machen ihr Platz. »Ich weiß allerdings nicht, warum du dir das Recht herausnimmst, in meiner Gegenwart auch nur zu atmen.«
Alle sehen mich an. Meine Wangen werden rot. Nicht einer freundlich. Nur Mâzeli runzelt mitleidig die Stirn.
»Ich habe mitgeholfen, die Magie zurückzubringen.« Ich schiebe mein Kinn vor. »Ich habe selbst Magie.«
»Das Gestümper, was du Magie nennst, sichert dir keinen Platz an diesem Tisch. Und es gibt dir schon gar nicht das Recht, eine Meinung zu haben.« Ramaya mustert mich vom Scheitel bis zur Sohle und wendet sich dann an Zélie. »Ich freue mich darauf, dich im Rat begrüßen zu können. Morgen klären wir das mit den anderen Seelenfängern und ernennen dich offiziell zur Ältesten.«
»Und was ist mit dem Angebot des Königs?«, fragt Nâo.
»Ich teile Zélies Meinung. Unsere Kämpfer an der Front bekommen den Befehl, bis Sonnenaufgang alle Vorräte zu verbrennen.«
»Warte, Ramaya!« Ich will nach ihrem Arm greifen, doch sie bannt mich mit ihrem Blick.
»Noch ein Wort an meinem Tisch, und ich reiße dir mit bloßen Händen die Zunge heraus!«
Ich atme bebend ein. Ramaya stolziert davon, die anderen Ältesten folgen ihr. Ich reiße mich zusammen. Was möchte ich ihnen nicht alles hinterherrufen. Ich kann nicht fassen, wie leichtfertig sie Inans Friedensangebot ausgeschlagen haben.
»Was soll das?«, frage ich Zélie. »Du hättest sie überzeugen können, dem Frieden eine Chance zu geben.«
»Das war kein Friedensangebot.« Zélie schüttelt den Kopf. »Das war ein Köder. Inan lockt uns mit Lebensmitteln, so wie er mich mit Baba gelockt hat. Er wird jeden Maji töten, der darauf hereinfällt.«
Ich will widersprechen, aber ich weiß, dass es nichts nützt. Nach allem, was Zélie und mein Bruder sich gegenseitig angetan haben, werde ich sie nicht überzeugen können, ihm eine zweite Chance zu geben.
»Halt dich einfach an unseren Plan«, sagt sie. »Mit Hilfe der Iyika können wir deine Familie ausschalten. Die Ältesten
werden schon mit dir warm werden, wenn sie erst mal wissen, dass man dir trauen kann.«
»Sie werden mir nie vertrauen.« Ich schaue auf den Hocker, auf dem Ramaya saß. Noch immer spüre ich die Kälte ihrer Verachtung, ihren Hass für das, was ich bin. »Wenn sie mich wenigstens respektieren würden …«
Ich verstumme und betrachte meine vernarbte Hand.
»Was denkst du?«, fragt Zélie.
»Du musst mir helfen, meine Magie zu kontrollieren!«