Kapitel 23
Inan
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als Mutter und ich uns ins Händlerviertel begeben, um die Überläufer der Iyika zu begrüßen. Nach dem letzten Angriff der Rebellen haben unsere Soldaten keine Zeit verloren und innerhalb weniger Tage alle Leichen vom Marktplatz beseitigt.
Wir steigen über Trümmer, die an den Straßenrand geschoben wurden, um Platz für die Versorgungswagen zu machen. Die Marktstände sind erst seit der Dämmerung wieder geöffnet, doch die Schlange der Menschen, die um Essen anstehen, zieht sich schon bis in die Siedlung der Divînés.
»Inan, bist du dir auch wirklich sicher?« Mutter greift nach den Zügeln meiner Schneeleopardesse und drückt mich an sich. Hinter uns treiben Soldaten die Bewohner in Bunker, die von Mutter und ihren Tîtánen gebaut wurden. »Jokôye hat dich in Verlegenheit gebracht. Diese Made hat dich unvorbereitet erwischt. Es ist gut, was du tust, aber es ist auch kein Problem, seine Meinung zu ändern.«
Sie spricht die Gedanken aus, die mir schon den ganzen Abend durch den Kopf gehen. Ich habe keine Ahnung, ob es funktionieren wird. Ob es wirklich das Beste für Orïsha ist.
Wir reiten an den Überresten der Divîné-Siedlung vorbei. Angesichts der Zerstörung weiß ich nicht, ob ich weiterreiten oder umkehren soll. Die farbenfrohen Baracken, die meine Stadt
umgaben, hatten etwas Schönes. Jetzt sehe ich nur noch Schutt und Asche.
Vor einem großen Hügel, wo sich früher fünfzig Hütten befanden, bleibe ich stehen; nur noch verbogene bunte Metallplatten ragen aus dem Boden.
»Waren das die Iyika?«
»Nein.« Mutter schüttelt den Kopf. »Das war ich.«
In ihrem bernsteinfarbenen Blick liegt eine Wildheit, die ich noch nie gesehen habe. Jedes Mal, wenn ich versucht habe, Magie auszuüben, verlor ich fast das Bewusstsein, doch Mutter scheint die Kraft der Götter problemlos zu beherrschen.
»Ich wusste nicht, dass ich anders bin. Bis diese Maden uns angegriffen haben«, erklärt sie. »Die neuen Tîtánen konnten mit ihren Gaben nicht richtig umgehen und haben sich verletzt, doch ich konnte ihre Kraft aufnehmen und bündeln. Dadurch bekam meine Magie eine Kraft, an die kein Maji heranreichte.« Ihre Stimme wird immer höher, je überzeugter sie von ihren eigenen Worten wird. »Nie konnten wir uns vor den Schäden schützen, die die Maji angerichtet haben, aber jetzt haben die Götter auch uns diese Gabe geschenkt. Wir sind mächtig genug, um die Maji auszulöschen, Inan. Der einzige Weg, den Frieden dauerhaft zu sichern, ist die komplette Ausrottung der Maden.«
Bei ihren Worten werden meine Hände kalt. Orïsha von den Maji zu säubern, wäre die Vollendung von Vaters Werk. Es würde eine weitere Blutnacht bedeuten.
Als wir uns dem Schotterwall nähern, der Lagos vor dem Dschungel schützt, fühle ich die Last der Welt schwer auf meinen Schultern. Mir läuft die Zeit davon. Ich muss eine Entscheidung treffen.
»Ich kann Schneisen durch den Wall schlagen«, sagt Mutter. »Aber ich kann sie nicht wieder schließen. Willst du wirklich
unsere einzige Verteidigung für ein paar aufständische Maden aufs Spiel setzen?«
Generalin Jokôye und die anderen Berater beobachten uns aus sicherer Entfernung, dennoch spüre ich ihre Missbilligung wie eine Rauchwolke über mir. Wenn ich mich irre, müssen wir es vielleicht alle ausbaden. Aber wenn ich recht habe …
Ich sehe Raifas tiefliegende braune Augen vor mir. Und auch wenn mir die junge Flammentänzerin ins Gesicht gespuckt hat, so konnte ich deutlich ihre Knochen unter der Haut sehen. Sie war unterernährt wie meine Untertanen.
»Wir müssen es versuchen.« Ich atme tief aus. »Ich muss es einfach probieren.«
Dies ist meine Chance, den Frieden zu schaffen, den Vater nicht sichern konnte.
Mutter presst die Lippen aufeinander, nickt aber, als sie vor dem Schuttwall absteigt. Auf eine knappe Handbewegung von ihr hin bilden ihre Tîtánen in den eindrucksvollen goldenen Rüstungen einen Kreis um sie.
»Eure Majestät, das ist ein Fehler!« Jokôye schüttelt den Kopf. Ich geselle mich zu ihr und den anderen Mitgliedern des Hofrats.
»Generalin Jokôye, ich weiß, wie es Ihnen geht, aber die Maji wünschen sich den Frieden ebenso sehr wie wir.«
»Die wollen keinen Frieden«, brummt Ojore. »Die wollen den Sieg, um jeden Preis.«
Seine Hand tastet nach den Brandnarben an seinem Hals, und ich hebe den Blick zum Himmel. Bitte
, sende ich ein Gebet an die Götter, welche auch immer es sein mögen. Beweist, dass ich recht habe! Die anderen sollen sich irren.
Als Mutter ihre Magie ruft, verstummen alle Gespräche. Sie öffnet die Hände, und die Luft um sie herum beginnt zu
wirbeln. In ihrer Brust erglimmt smaragdgrüne Glut. Dunkelgrüne Funken umtanzen ihre goldene Rüstung wie Blitze. Die Adern an ihrem Hals treten hervor. Sie spreizt die Finger, und die Tîtánen um sie herum erstarren.
»Bei den Himmeln!«, stoße ich aus. Die Tîtánen, die den Kreis um Mutter bilden, winden sich stöhnend, während sie die Ashê aus ihren Körpern saugt.
Die Soldaten sacken auf die Knie, Mutters Augen glühen grün. Mit einem Brummen streckt sie die Hände nach vorne, und ihre Kraft bricht sich Bahn. Grünes Licht schneidet wie ein Messer durch den Wall, trennt einzelne Stücke heraus.
Dann explodiert der gesamte Wall. Wir halten uns schützend die Hand vor die Augen. Verbogenes Metall und Trümmerteile fliegen durch die Luft. Als sich der Qualm verzieht, wird mir eng in der Brust. Sieben Mitglieder der Iyika stehen auf dem höchsten Hügel und sehen auf Lagos hinab.
Jetzt geht es los
.
Stille breitet sich aus. Wir mustern die Rebellen. Ihre Gesichter und Haare sind voller Dreck. Sie tragen ausgefranste Kaftane und machen keinen freundlichen Eindruck, aber mir reicht, dass sie überhaupt gekommen sind. Das erste Zeichen der Hoffnung.
Das erste Zeichen, dass Frieden wirklich möglich ist.
»Raifa!« Ich grüße die junge Flammentänzerin mit erhobener Hand. Sie macht einen Schritt auf mich zu. Ich tue es ihr nach.
»Ich freue mich, dass du gekommen bist.«
Mutter versucht zu verhindern, dass ich durch die zerstörten Tore trete, doch ich schiebe sie von mir. Wenn wir wirklich Frieden wollen, müssen die Iyika sehen, dass ich es ernst meine. Sie müssen merken, dass ich keine Angst habe.
»Schon gut.« Ich fordere meine Leute auf, mir zu folgen. »Ihr steht unter meinem Schutz.«
Raifa sagt etwas. Trotz der Entfernung kann ich ihren schweren Atem hören. Sie kommt näher und streckt die Hand aus. Ich freue mich über ihre Entschlossenheit und halte ihr ebenfalls die Hand entgegen.
Da sprühen Funken aus ihren Fingern.
»Schützt den König!«, gellt Mutters Stimme über uns hinweg. Innerhalb von Sekunden bricht Chaos aus. Soldaten ziehen mich nach hinten, Mutters Tîtánen stürmen nach vorn und schleudern alle Majazitbomben auf die Maji, die sie dabeihaben.
Die Glaskugeln zersplittern. Irgendjemand drückt mir eine goldene Maske aufs Gesicht. Als sich das giftige Gas übers Schlachtfeld legt und es unmöglich macht, irgendetwas zu sehen, wird mir schwindelig.
»Mutter!« Ich warte darauf, dass sich der schwarze Dunst verzieht. Als der Qualm dünner wird, reiße ich mich los und hoffe inständig, dass die Toten auf dem Boden nicht meine Soldaten sind.
»Sind alle unversehrt?« Meine Stimme bricht. Ich nähere mich den Maji, die auf dem versengten Boden liegen. Die Rebellen sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Das Majazit lässt ihre Haut noch knistern.
Ein paar meiner Soldaten haben zwar Kratzer und blaue Flecken, doch sie stehen noch. Mutter wischt sich einen Blutfleck von den Lippen und spuckt aus.
»Verdammte Maden!«
»Es tut mir leid.« Ich taumele rückwärts, habe Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Als mir klarwird, was gerade passiert ist, beginnt mein Körper zu zittern. Und ich habe geglaubt, ich würde einen großen Schritt in die richtige Richtung tun. Ich
habe alles aufs Spiel gesetzt, um ein anderer König zu sein. Aber die Iyika haben nicht mal abgewartet, bis sie in der Stadt waren, um uns anzugreifen.
Ojore hatte recht; sie wollen keinen Frieden.
Sie wollen den Sieg, koste es, was es wolle.
Als Mutter meine Verzweiflung sieht, wird ihr Gesichtsausdruck weich. Seufzend nimmt sie meine Hand. »Du hast auf dein Herz gehört, aber du musst begreifen, dass nicht jeder in Orïsha dein Vertrauen verdient.«
Ich zwinge mich zu nicken und umklammere die Bronzemünze, um das Zittern in meiner Hand zu unterdrücken. »Diesen Fehler mache ich nicht noch mal.«
»Moment mal!«, ruft Ojore, der an den Leichen entlanggeht. »Das sind nur sechs. Aber oben auf dem Hügel habe ich sieben gezählt.«
Ich laufe zu ihm, und das Herz sackt mir in die Hose, als mir klarwird, wer fehlt.
»Wo ist das Mädchen?«, rufe ich. »Wo ist Raifa?«
Unruhe breitet sich aus, die Soldaten fangen an, sie zu suchen. Da entdecke ich ihre schlanke Gestalt ein ganzes Stück weiter, hinter den Ruinen des Walls. Als sie ihren Namen hört, dreht sie sich um. Sie hat eine goldene Maske über Mund und Nase.
Panik steht in ihren großen braunen Augen. Sie schaut in Richtung des Marktplatzes. Da verstehe ich, was sie vorhat.
Die anderen Rebellen waren nur eine Ablenkung.
»Haltet sie auf!«, rufe ich.
Raifa reißt sich die Maske hinunter und rennt, so schnell es ihre dünnen Beine erlauben. Ihre weißen Haare peitschen auf ihrem Rücken, sie läuft an den zerstörten Behausungen der Divînés vorbei, bis sie die Ruinen des Händlerviertels erreicht.
Die Soldaten, die zur Bewachung der Ausgabestellen
abkommandiert sind, stellen sich ihr in den Weg, doch Raifa streckt nur die Hand aus, und aus ihren Fingern sprühen Funken. »Iná òrìsà, gbó ìpè mi!«
, ruft sie.
Einem Tîtánen gelingt es, sie zu Boden zu werfen, dennoch fliegen ihre Funken in alle Richtungen und werden immer heller und größer, bis es gewaltige Feuerbälle sind. Ich bin starr vor Entsetzen.
Fünf Kometen fliegen auf den Wagen zu. Die Menschen werfen sich zu Boden. Als die Kometen einschlagen, stockt mein Herz.
Im Nu gehen die Lebensmittel in Flammen auf.
»Nein!« Ich sacke auf die Knie, drücke die Hände auf die Brust und bekomme kaum noch Luft. Ein Zorn, der sich fremd anfühlt, überflutet mich.
Die Hälfte unserer Vorräte.
In Sekunden zerstört.
»Das ist erst der Anfang!«, schreit Raifa. Mehrere Soldaten versuchen, sie festzuhalten. Sie schlägt wild um sich und beginnt zu zittern, als Ojore auf sie zukommt. Dennoch schreit sie: »Eure Zeit ist vorbei! Ganz Lagos wird brennen! Die Kriegerin des Todes ist gekommen …«
Ojore bringt sie mit seinem Schwert zum Schweigen. Ich zucke zusammen.
Die Kriegerin des Todes ist gekommen.
Ich muss nicht groß überlegen, um zu wissen, wer damit gemeint ist. Zélie hat geschworen, mich zu vernichten. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass sie so schnell angreift. Ich habe unterschätzt, welche Mittel und Menschen ihr zur Verfügung stehen.
»Seid ihr jetzt zufrieden, Euer Majestät?«, schäumt Jokôye hinter mir. »Den Himmeln sei Dank für Euren Idealismus!«
Raifas Blut bildet eine Lache auf dem Boden. Die Soldaten versuchen, den brennenden Marktplatz zu löschen, doch die Lebensmittel sind nicht zu retten. Auch wenn mein Körper vor Wut bebt, ist mein Herz voller Trauer.
Ich registriere die Verzweiflung meiner Berater, den Zorn meiner Soldaten. In der Ferne kommen die Bewohner aus den Bunkern. Was werden sie tun, wenn sie sehen, dass sie nur noch die Wahl zwischen Verhungern oder einem Angriff der Iyika haben?
»Ich bringe es wieder in Ordnung«, rufe ich. »Versprochen!«
Ich wüsste nur gerne, wie.