Kapitel 24
Amari
Mit brennender Kehle erbreche ich gelbe Galle ins Wildgras. Aus irgendeinem Grund riecht sie süßlich nach gebratener Kochbanane. Von dem Geruch wird mir erneut übel.
Zélie und ich üben in der Hügellandschaft hinter dem Sanktuar der Iyika. Die ganze Zeit frage ich mich, was ich nur falsch mache. Egal, was ich versuche, das Anrufen meiner Tîtánen-Magie gleicht purer Folter. Meine Kräfte wüten völlig unkontrolliert.
»Vielleicht war das doch keine gute Idee.« Zélie wendet sich ab, als ich von neuem zu würgen beginne. »Wenn das so weitergeht, wird deine Magie eher dir als irgendwem anders schaden.«
Ich wische mir den Speichel vom Kinn. Die linke Hand zu heben, tut weh. Kopfschüttelnd betrachtet Zélie die Brandwunden auf meiner Handfläche. Die Haut unter den Blasen wird rot.
»Alles gut«, sage ich. »Ich darf einfach nicht aufgeben.«
»Wenn du dir so viel Druck machst, kannst du daran sterben. Willst du das wirklich?«
Mit zitternden Armen lege ich mich ins Gras. Nach stundenlangem erfolglosen Üben brennt meine Lunge bei jedem Atemzug. Doch immer wenn ich aufgeben will, muss ich an Ramayas Narbe denken.
Noch ein Wort an meinem Tisch, und ich reiße dir mit bloßen Händen die Zunge heraus!
Die Iyika werden mich niemals respektieren, solange ich meine Kräfte nicht unter Beweis stelle. Wenn ich sie auf meine Seite ziehen will, muss ich meine Magie in den Griff bekommen.
Ich verdränge meine Schmerzen und stehe auf, um meine Magie aufs Neue anzurufen, doch Zélie hält mich zurück.
»Es geht nicht darum, sich zu quälen.« Sie seufzt. »Komm mit! Ich erkläre es dir.«
Ich trotte hinter ihr her, hinunter ins Tal. Wir ducken uns unter herabhängenden Ranken hindurch, vorbei an Mammutbäumen. Kreischende Zikaden bilden den Chor der Nacht. Über uns springen Paviander von einer Liane zur nächsten.
Wir kommen zum Fluss, an dem der Trampelpfad entlangführt. Trotz meiner schmerzenden Muskeln erfreue ich mich an der klaren Landschaft. Zélie kniet sich hin und deutet auf eine Stelle, wo das Wasser über größere Steine fließt.
»Stell dir unsere Ashê wie das Wasser vor«, beginnt sie. »Das ist die spirituelle Energie in unserem Blut. Wenn Maji Beschwörungen sprechen, ist das so, als würden sie einen Stein anheben. Dann fließt die Magie ungehindert und kann kontrolliert eingesetzt werden.«
Sie nimmt einen Stein hoch. Ich sehe, wie das Wasser sich einen neuen Weg an den anderen Hindernissen vorbei sucht, und stelle mir vor, wie lavendelfarbene Magie durch Zélies Körper fließt und ihre Adern wie ein leuchtendes Spinnennetz sichtbar macht.
»Als würde man einen Faden einfädeln?«
»So ähnlich.« Zélie nickt. »Die frei fließende Energie ist nicht so mächtig wie deine Magie, aber sie ist präzise einsetzbar. Da sie gesteuert werden kann, erreicht man mehr mit ihr.«
Zélie hält inne und betrachtet die Steine im Wasser. Der größte fesselt ihre Aufmerksamkeit. »Als Tîtánin benutzt du eine dir innewohnende Blutmagie. Das bedeutet, dass du keine Kontrolle darüber hast. Dass du sie nicht punktgenau einsetzen kannst.« Sie hebt den schweren Stein hoch, und sofort schießt das Wasser über die frei gewordene Stelle. »Das ist so, als würden wir all unsere Ashê im Blut auf einmal entfesseln. Diese Form von Magie wäre dann das Ergebnis.«
Ich starre auf meine vernarbten Hände und verstehe allmählich den Grund für meine Schmerzen. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, in mir würde ein Feuer wüten und mich bei jedem Versuch verbrennen.
»Wenn meine Magie eine Nadel ist, ist deine ein Hammer«, sagt Zélie. »Unkontrolliert kann sie dich und die Menschen um dich herum verletzen. Wenn du zu viel Ashê freisetzt, dann tut es nicht einfach nur weh. Dann überrollt es dich.«
Ich presse die Lippen aufeinander und denke über ihre Worte nach. Wenn es stimmt, was sie sagt, stellt jeder Tîtán eine Gefahr für sich selbst dar. Wie viele sind bereits umgekommen, weil sie es mit ihrer Magie übertrieben haben?
»Aber was ist mit meiner Mutter?«, frage ich. »Sie hat mehr Ashê gebündelt als jeder andere Tîtán. Warum ist sie nicht daran gestorben?«
»Ich weiß es nicht.« Zélie erschaudert. »Eine Kraft wie ihre habe ich noch nie gesehen. Sie war wie aus einer anderen Welt.«
Ich hole ebenfalls tief Luft, stehe auf und lasse mir Zélies Erklärung durch den Kopf gehen.
»Um die mir innewohnende Blutmagie benutzen zu können, müsste ich sie doch nur in den Griff bekommen«, sage ich. »Kannst du mir nicht eine Beschwörungsformel dafür beibringen?«
Zélies Nasenflügel weiten sich, sie macht einen Schritt zurück und spannt die Schultern an. »Die Sprache Yoruba ist unserem Volk heilig. Man kann sie nicht einfach so lernen.«
»Aber das hier ist größer.« Ich mache eine ausholende Handbewegung. »Um der Himmel willen, wir befinden uns im Krieg –«
»Bei unserer Magie geht es nicht um Krieg!«, ruft Zélie. »Die Beschwörungen gehören zur Kultur unseres Volks. Und genau die wollte dein Vater zerstören!« Schwer atmend schüttelt sie den Kopf. »Die Tîtánen haben uns schon die Magie gestohlen. Ihr könnt uns nicht auch noch die Sprache stehlen.«
»Ich stehle?« Ich lege den Kopf schräg. »Zélie, wovon redest du da? Wie soll ich denn sonst lernen, die Kraft zu kontrollieren?«
»Du brauchst sie nicht zu kontrollieren«, gibt sie zurück. »Du brauchst sie überhaupt nicht einzusetzen!«
»Wenn ich nicht über meine eigene Kraft verfüge, auf wen soll ich mich dann verlassen?« Ich strecke die Arme aus. »Bei den Iyika hat es keine fünf Minuten gedauert, da bist du mir in den Rücken gefallen!«
»Dir in den Rücken gefa…?« Zélie bleibt stehen und schnaubt verächtlich. »Darum also der ganze Aufstand. Nach allem, was Inan getan hat, vertraust du ihm immer noch!«
Meine Wangen werden rot. Ich wende mich ab und schlinge die Arme um mich. Ich weiß, dass ich es ihr nicht erklären kann, aber ich weiß, dass mein Bruder ein gutes Herz hat. Wenn er uns Lebensmittel angeboten hat, war das auch ernst gemeint. Wir hatten die Möglichkeit, den Krieg zu beenden, doch Zélie hat das Angebot, ohne nachzudenken, abgewiesen.
»Mein Plan hat sich nicht geändert«, sagt sie. »Ich will immer noch dich auf Orïshas Thron sehen. Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen, wenn ich nicht mehr so dumm bin, die Lügen deines Bruders zu glauben.«
Stures Schweigen macht sich zwischen uns breit und lässt die gefühlte Temperatur im Dschungel sinken. Ich würde Zélie gerne vertrauen, aber tief in mir weiß ich, dass wir nicht dasselbe Ziel haben. Letzten Endes sind Inan und ich blutsverwandt. Für Zélie ist er der miese Kerl, der ihr Herz gebrochen hat.
Ich kann diesen Krieg genauso wenig Zélie wie Ramaya überlassen. Wenn ich ihn gewinnen will, muss ich meine eigene Magie einsetzen.
»Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe.« Ich seufze. »Aber meine Mutter bringt Häuser zum Einstürzen. Über unseren Köpfen. Ich kann mich nicht nur auf mein Schwert verlassen. Du hast nur die Aufgabe, für die Maji zu kämpfen, doch ich als Königin bin für alle verantwortlich. Für die Kosidán, die große Angst haben. Für die Tîtánen-Soldaten, denen Mutter das Leben wortwörtlich aus dem Körper saugt. Ich bin auch für die Maji verantwortlich, obwohl sie mich auf den Tod hassen, aber ich kann niemandem helfen, solange ich keine eigenen Kräfte habe.«
»Nein, Amari!« Zélie macht einen Schritt nach vorn und senkt die Stimme. »Du bist nicht für alles zuständig. Es ist nicht deine Aufgabe, Orïsha zu retten.«
»Wenn ich es nicht tue, wer dann?«, rufe ich. »Du hast es selbst gesagt: Du traust Inan nicht zu, dass er zu seinem Wort steht.«
Müde reibe ich mir die Augen und versuche weiter, den Schmerz zu verdrängen. Ich denke an all die Menschen, die wegen mir leiden mussten. An alle, die gestorben sind, weil ich nicht auf dem Thron von Orïsha sitze.
»Ich bin die Einzige, die für alle Seiten kämpft. Das kann ich nicht ohne Magie. Wenn du mir nicht helfen willst … gut. Dann suche ich mir jemand anderen.«
Ich will gehen, doch Zélie hält mich am Arm fest. Sie lässt die Schultern hängen und atmet tief aus. Ich sehe sie fragend an.
»Machst du es?«
»Nur unter einer Bedingung«, sagt sie. »Wenn ich dir eine Beschwörungsformel beibringe, darfst du sie nur gegen Tîtánen einsetzen. Nicht gegen Maji.«
Ich nicke. Mir ist das Gewicht ihrer Worte bewusst. »Das verspreche ich. Ich werde sie nur gegen Mutter und ihre Truppen verwenden.«
Mit schweren Beinen nimmt Zélie ihre Position ein, dann hebt sie die Arme.
»Gut.« Sie drückt meine Hände in die richtige Stellung. »Spreiz deine Beine und wiederhole meine Worte!«