Kapitel 25
Zélie
Am nächsten Morgen bekomme ich die Augen kaum auf. Die ganze Nacht habe ich mit Amari geübt. Erst bei Sonnenaufgang sind wir ins Sanktuar zurückgekehrt. Während die beiden Seelenfänger meines Clans mich auf den Aufstieg zur Ältesten vorbereiten, kämpfe ich gegen den Drang, der Sicherheit innerhalb dieser Mauern zu entfliehen. Ich wollte doch nur eine Möglichkeit finden, den Krieg zu gewinnen.
Ich bin nicht bereit, Clanälteste zu werden.
»Hol mir klares Wasser!«, befiehlt Bimpe, das ältere der zwei Mädchen, dem jüngeren. Die beiden Seelenfänger wuseln in Sêntaro-Gewändern um mich herum. Bimpe ist so groß, dass ihr der Saum nur bis zum Knie reicht. Um Augen und Mund hat sie weiße Pigmentflecken, die ein wunderschönes Muster auf ihre braune Haut zeichnen.
Mári neben ihr ist mit ihren zarten dreizehn Jahren noch klein und geht in ihrem schweren schwarzen Gewand fast unter. Wenn sie zu mir hochlächelt, blitzt mich die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen an.
Die Anwesenheit der beiden lässt die verwitterten Wände des Tempels, dem Heiligtum unseres Clans, erstrahlen. Buntbemalte Fliesen bilden ein Mosaik über unseren Köpfen, in roten und violetten Farben sind die Ältesten der Vergangenheit dargestellt. Tränenförmige Laternen unter der Kuppeldecke
verbreiten ein lavendelfarbenes Licht. Ich schaue zu ihnen hoch, während Bimpe mir mit nach Zitrusfrüchten duftenden Ölen den Dreck von der Haut schrubbt.
»Hast du dir Gedanken darüber gemacht, wer dein Adjutant werden soll?«, flüstert Mári, unbeeindruckt von Bimpes mahnendem Blick. Sie zieht ihre Kapuze herunter, und zwei große Haarknoten kommen zum Vorschein. »Falls nicht …«
Bimpe gibt ihr einen Klaps auf den Hinterkopf. Mári zieht den Kopf ein.
»Beachte sie bitte nicht, Jagunjagun
«, sagt Bimpe. »Eigentlich weiß sie, dass sie dich vor deinem Aufstieg zur Ältesten in Ruhe lassen soll.«
Mári streckt die Zunge raus, ich muss mir ein Lachen verkneifen. Als Bimpe einen Kamm holen geht, beugt sich Mári wieder zu mir vor.
»Ich kann vier
Schemen machen.«
»Vier?« Ich hebe die Augenbrauen. »Nicht schlecht!«
»Wenn du mit mir übst, schaffe ich noch mehr«, flüstert sie. »Vielleicht sogar größere als Mâzeli!«
Als Bimpe zurückkommt, schließt Mári schnell den Mund. Wir lächeln uns wissend an. Während Bimpe den eisernen Kamm durch meine Haare zieht, zucke ich nicht mit der Wimper. Mári schiebt mir dicke goldene Ringe auf die Finger. Als ich gereinigt bin, helfen sie mir in einen wallenden roten Rock, der so lang ist, dass er wie eine Schleppe über den Steinboden schleift. Bimpe greift zu einem passenden Schal aus tiefroter Seide.
»Gleich fertig«, sagt sie.
Die beiden stecken mir den Stoff über der Brust zurecht. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass die Narben auf meinem Rücken nun für alle sichtbar sind. Doch die Mädchen binden eine dicke Schleife, um das furchtbare Mal zu kaschieren.
»Diese Zeichen«, flüstert Mári. »Sollen wir die abdecken?« Ihr Hände schweben über den goldenen Symbolen, die vom Nacken abwärts verlaufen.
»Nicht vollständig«, sagt Bimpe. »Schließlich gehören sie zu ihr.«
Ich senke den Kopf. Bimpe nimmt mir den traditionellen Kragen ab und befestigt ein goldenes Band um meinen Hals, an dem lange Reihen schimmernder Perlen hängen, die mir bis auf Brust und Rücken reichen. Die beiden Mädchen putzen die Ledersandalen an meinen Füßen. Nachdem sie mir einen Kopfschmuck aus Perlen auf den Kopf gesetzt haben, sehe ich aus wie Mama.
Als sei Oya zum Leben erwacht.
»Unsere Arbeit ist getan.« Bimpe verbeugt sich vor mir, Mári macht es ihr nach.
»Du siehst toll aus!« Die braunen Augen der Kleinen glänzen. »Viel schöner als Mâzeli!«
»Danke.« Ich lächele, die beiden verneigen sich erneut. Als sie zur Tür hinausgehen, wird mir wieder eng in der Brust.
Der Tempel der Seelenfänger steht auf dem dritten Hügel, doch ich kann die Maji unten plaudern hören. Keine Ahnung, wie ich einen ganzen Clan schützen soll, wenn ich nicht mal Baba retten konnte. Ich kann mich ja kaum selbst verteidigen.
Als ich mich setze, segeln mir wieder die Schiffe, die ich von Roëns Söldnerversteck heraus beobachtete, durch den Kopf. Ich weiß, dass mein Status als Clanälteste mir helfen wird, Inan zur Strecke zu bringen, doch mit jedem vergehenden Tag scheint mir die Freiheit, nach der ich mich so sehne, in weitere Ferne zu rücken.
»Wow!«
Ich drehe mich um. Tzain steht in der Tür. Er pfeift leise und grinst beeindruckt.
»Das sieht aus, als würdest du heiraten.«
»Auf gewisse Weise tue ich das auch.« Ich lasse mich in seine Umarmung sinken. »Nur dass ich mich nicht an einen einzigen Menschen binde, sondern an einen ganzen Clan.«
»Ach, komm! Vor der Blutnacht hast du immer davon geschwärmt, dich mit den anderen Seelenfängern zusammenzutun.«
»Da war ich noch ein Kind. Aber jetzt –« Meine Stimme versagt, ich schließe die Augen und weiß nicht, was ich sagen soll.
»… ist zu viel passiert?«, ergänzt Tzain.
»Uns wurde zu viel genommen.«
Schweigen breitet sich aus. Ich setze mich wieder und denke daran, was wir alles verloren haben. Früher war die Magie die Kraft, durch die ich mich am lebendigsten fühlte, jetzt kann ich sie nicht benutzen, ohne an jene zu denken, die gestorben sind.
Ich weiß, dass ich keine andere Wahl habe; ich kann Inan nicht ohne die Hilfe der Iyika besiegen. Aber dass ich gleich Clanälteste werden und dieses ehrwürdige Amt bekleiden soll?
Das fühlt sich einfach falsch an.
»Du hast Angst.« Tzain kniet sich vor mich. »Aber niemand ist für die Aufgabe besser geeignet als du! Ich weiß noch gut, wie deine Augen geleuchtet haben, als du dir mit Mama angesehen hast, wie ein Neuer zum Ältesten der Seelenfänger aufstieg.«
Das Ereignis, von dem er spricht, kehrt zurück. Ich erinnere mich an Mamas wunderschöne dunkle Haut und ihre Krone aus schwerem weißen Haar.
Als das letzte Mal ein neuer Ältester bei den Seelenfängern erwählt wurde, reisten wir bis nach Lokoja, um seiner Aufstiegszeremonie beizuwohnen. Zu Beginn des Rituals drückte Mama meine Hand. Ihre Hände rochen immer nach Kokosöl.
Ich weiß noch, dass ich die Luft anhielt, als sich ein dunkelviolettes Licht über dem Platz ausbreitete und Oyas Gegenwart verkündete. Schwarzer Rauch legte sich über das Gelände und verdeckte die Sicht auf den neuen Ältesten.
»Was passiert da?«, flüsterte ich.
»Jetzt kommt seine Ìsípayá«, raunte sie zurück. »Beim Aufstieg wird jedem Clanältesten eine Weisheit der jeweiligen Gottheit zuteil. Eine Prophezeiung, die ihm bei der Führung des Clans helfen soll.«
»Ich will auch eine Ìsípayá!«, sagte ich. Mama lachte.
»Ich auch.« Sie drückte mich. »Vielleicht bekommen wir irgendwann mal eine.«
Damals wusste ich nicht, was es bedeutete, Clanältester oder -älteste zu sein. Ich wollte einfach nur das haben, was Mama sich wünschte.
»Du schaffst das schon.« Tzain hilft mir auf die Füße. »Das weiß ich. Du musst es nur selbst glauben.«
Ich nicke, atme tief durch und drehe mich zur Tür des Tempels um.
»Gut«, sage ich. »Gehen wir!«
Als Mama Agba in den Steinkreis am Fuß des dritten Bergs tritt, verstummen die Maji. Rundherum stehen fast achtzig Mitglieder der Iyika und sehen zu, daneben die Divînés ihres jeweiligen Clans. Mit ihrer hoch aufragenden silbernen Kopfbedeckung und dem dazu passenden gemusterten Umhang sieht Mama Agba wie eine Göttin aus. Die glänzende Seide raschelt um ihre Beine. Sie stellt sich in die Mitte des Kreises. Ihre Stirn und ihre Wangenknochen sind mit weißer Farbe bemalt.
»Heute lächeln die Götter«, beginnt sie. »Eure Vorfahren lächeln auch. Jedes Mal, wenn sich ein Ältester erhebt, um den Clan zu führen, hauchen wir dem System, das unsere Feinde zerstören wollen, neues Leben ein.«
Jubel schallt über den Platz, und ich muss tief durchatmen, um alles richtig mitzubekommen. Ich wünschte, Baba könnte diesen Augenblick miterleben. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, sein Tod sei nicht umsonst gewesen.
»Vor der Blutnacht war die Rolle der oder des Ältesten dem mächtigsten Maji im Clan vorbehalten«, fährt Mama Agba fort. »Wenn jemand der Ansicht war, der Titel gebühre ihm, hatte er das Recht, den Amtsinhaber herauszufordern und es zu beweisen. Ein Ältester konnte aber auch die Kraft eines anderen anerkennen und freiwillig zurücktreten. Mir wurde zugetragen, dass das heute jemand von euch tun möchte.«
Mama Agba faltet die Hände und dreht sich zu den drei Seelenfängern um, die sich in einer hinteren Ecke versammelt haben. Auch wenn unser Clan hier im Sanktuar der kleinste ist, schnürt sich mir die Kehle zu, so viele Seelenfänger auf einmal zu sehen. Noch vor wenigen Monden gab es außer mir keine in Orïsha.
»Mâzeli Adesanya«, verkündet Mama Agba. »Ältester des Ikú-Clans. Es gibt eine Herausforderin. Möchtest du zurücktreten oder dich mit ihr messen?«
Mâzeli macht sich groß und geht über den Blutstein in der Mitte. Er trägt ein schwarzes Seidengewand über den Schultern, dessen dunkler Untergrund mit violetten Seelenfänger-Symbolen verziert ist.
»Ich trete gerne zurück.« Er verbeugt sich in meine Richtung. »Wer sonst sollte die Seelenfänger anführen, wenn nicht die Kriegerin des Todes selbst?«
Bei seiner Antwort bricht wilder Jubel aus. Er müsste mir Mut machen, doch stattdessen tritt mir der kalte Schweiß auf die Stirn. Ich richte mich auf. Es fühlt sich an, als laste die ganze Welt auf meinen Schultern. Jeder Schritt über den Blutstein dauert eine Ewigkeit.
Wieder stelle ich mir vor, ich würde davonsegeln. Meine Narben brennen. Als ich zu Mama Agba in die Mitte trete, kann ich den Hunger in meinem Herzen nicht verhehlen. Ich knie mich vor sie.
»Zélie Adebola!« Mama Agbas Stimme ist belegt vor Rührung. Ihre mahagonibraunen Augen glänzen vor Tränen; ich grabe die Fingernägel in meine Handflächen, um nicht ebenfalls zu weinen.
»Ṣé o gba àwọn ènìyàn wònyí gégé bí ara rẹ? Ṣé ìwọ yóò lo gbogbo agbára rẹ láti dábòbò wón ni gbogbo ònà?«
Nimmst du dieses Volk als deines an?
Wirst du all deine Kraft dafür geben, es um jeden Preis zu schützen?
Ihre Fragen wiegen schwer auf meiner Brust. Ich schaue zu den Seelenfängern neben Mâzeli hinüber. Bimpe beobachtet mich, die Finger auf die Lippen gedrückt. Mári winkt mir begeistert zu, noch unempfänglich für die Schwere des Moments. Obwohl ich diese Menschen erst seit wenigen Stunden kenne, kommen sie mir jetzt schon wie Verwandte vor. Wie meine Heimat. Hier zu sein, fühlt sich richtiger als alles an, was ich seit Jahren getan habe.
»Wie lautet deine Antwort?«, fragt Mama Agba.
Ich drücke die Schultern nach hinten und nicke. Zum ersten Mal seit der Blutnacht sehe ich unser Potenzial. Ich sehe die Schönheit dessen, was aus uns werden kann.
»Mo gbà. Mà á se é.«
Die Bedeutung meines Schwurs schnürt
mir die Kehle zu. »Ich werde diese Seelenfänger mit allem beschützen, was ich habe.«
Mama Agba wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie den Daumen in eine Schale mit glitzernder violetter Farbe tunkt. Dann vollendet sie ihren Segen mit einem komplizierten Muster über meinem linken Auge. Der ganze Platz schweigt. Ich stehe reglos da, während sie Zimt und Mariengras um meine Füße verteilt.
»Ich weiß, dass deine Eltern stolz auf dich sind.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Genau wie ich.«
Ich stelle mir vor, was Mama und Baba sagen würden, wenn sie hier wären. Mama wäre die jüngste Älteste in der Geschichte des Ikú-Clans geworden. Jetzt kommt mir diese Ehre zu.
»Deine Hand, mein Kind.«
Ich strecke den Arm aus. Mama Agba zieht einen schwarzen Dolch hervor.
»Besiegele deinen Schwur mit Blut«, befiehlt sie. »Vor deinem Volk. Vor deinen Göttern.«
Sie macht einen sauberen Schnitt in meine Handfläche und legt meine Hand in die Mitte des Kreises. Die Steine leuchten auf. Ich werde nach vorn gerissen. Die Magie erwärmt die Luft um mich herum. Aus mir tropft mehr als nur mein Blut.
Meine Hände verbinden sich mit der steinernen Fläche. Die Menge hält die Luft an. Das violette Licht breitet sich aus wie die Fäden eines riesigen Spinnennetzes. Um meinen Kopf herum knistern Funken. Meine Adern treten hervor.
Das Licht am Boden explodiert zu einer Wolke aus violettem Rauch. Der Nebel ist so dicht, dass selbst Mama Agba verschwunden ist. Der Qualm verschluckt jedes Geräusch.
Alles wird schwarz. Der Rest des Bergs ist nicht mehr zu sehen. Meine Tätowierung kribbelt in meinem Nacken.
Plötzlich erscheint Oya in der Dunkelheit.
Ihr Götter …
Egal, wie oft ich sie in ihrer Herrlichkeit erblicke, es verschlägt mir jedes Mal den Atem. Die Göttin dreht sich vor mir, überlebensgroß. Ich ringe nach Luft. Ihre Röcke wirbeln wie ein strahlender roter Hurrikan. Von ihrer schwarzen Haut geht ein dunkelviolettes Leuchten aus. Aus ihrer Hand löst sich ein Tropfen Ashê und fällt in die Dunkelheit. Er wird immer heller.
In Erwartung des Geschenks von Oya, ihrer heiligen Weisheit, wie sie nur eine Ìsípayá schenken kann, spanne ich jeden Muskel an. Es war die Ìsípayá eines Zähmers, die zu den riesengroßen Rittlingen führte, über die wir heute verfügen. Die Ìsípayá eines Seelenfängers brachte die ersten Schemen hervor. Die Sehnsucht, die ich schon als Kind verspürte, verzehrt mich jetzt geradezu. Ich öffne die Hände und warte auf meine Ìsípayá.
Der Ashêtropfen fällt auf meine Handflächen und blendet mich mit seinem violetten Schein. Meine Haut wird warm, während die Ìsípayá in mir Gestalt annimmt.
Zuerst kommt ein violettes Lichtband wie ein Faden aus meiner Brust. Als Nächstes erscheint ein goldenes Band. Dann folgen Fäden in Orange und Smaragdgrün. Alle Farben winden sich umeinander und verweben sich. Sie verflechten sich wie die Wurzeln eines Mammutbaums und erzeugen eine unbändige Kraft, die wie eine Löwenesse brüllt.
Mit dem Kopf voller Fragen strecke ich die Hand aus, um den magischen Regenbogen zu berühren. Als sich meine Finger der sengenden Hitze nähern, lösen sich die Lichtbänder auf.
Ich werde in die Gegenwart zurückkatapultiert.
»Oh!« Stöhnend falle ich auf die Knie. Ich schaue auf meine zitternde Hand, doch von Mama Agbas Schnitt ist nichts mehr zu sehen.
Als sich der Qualm auflöst, hält mir Mama Agba ihre Hand hin. Mit vor Stolz glänzenden braunen Augen hilft sie mir auf die Beine.
Mama Agba dreht mich zur Menge um. Sie reckt meinen Arm in die Höhe, und der gesamte Berg beginnt zu johlen. Mein Herz jubiliert.