Kapitel 26
Inan
Als die Sonne hinter Lagos untergeht, überlege ich mir, wie ich auf den Angriff der Iyika auf unsere Lebensmittelvorräte reagieren werde. Noch sind wir wehrlose Opfer, doch wenn ich ihr Lager ausfindig mache, könnten wir unsererseits angreifen.
Wenn ich Lagos nicht aus dem Würgegriff der Iyika befreie, haben wir keine Chance, den Krieg zu gewinnen. Wenn wir uns nicht wehren, werden sie unseren zerstörten Wall stürmen und uns verhungern lassen.
Ich muss etwas tun. Bevor es zu spät ist.
Ich warte, bis es dunkel geworden ist. Bis der schmale Spalt vor Vaters Tür schwarz geworden ist. Als endlich der gesamte Palast still ist, steht ein Halbmond am verqualmten Himmel.
Ich krieche aus dem Bett und tausche mein besticktes Gewand gegen einen zerschlissenen Kaftan. Unter dem Kopfkissen habe ich eine gestohlene Büchse mit schwarzer Farbe versteckt. Ich ziehe sie heraus und färbe damit die weiße Strähne in meinem Haar.
Hoffentlich komme ich damit durch. Ich beuge mich vor und betrachte mich in Vaters Spiegel. Das letzte Mal, als ich so schlicht gekleidet war, war ich mit meiner Schwester und Zélie im Lager der Divînés. Das kommt mir jetzt so lange her vor, als sei es nie geschehen. Damals war ich nur ein Prinz. Und Zélie war noch nicht die Kriegerin des Todes.
Das ist erst der Anfang! Raifas Worte machen mir Angst. Ganz Lagos wird brennen!
Wenn ich keine Möglichkeit finde, die Iyika aufzuhalten, werde ich Schuld am Fall von Orïsha tragen.
Ich öffne mein Fenster und schätze die Entfernung zum Boden ab. Vaters Gemächer liegen im fünften Stock des Palasts, doch unter mir ragen Balkone und Brüstungen hervor. Ich klettere auf den Fenstervorsprung und halte mich an der Fensterbank fest. Wenn ich im richtigen Moment springe –
»Ich kann nur hoffen, dass du dich mit einem Mädchen treffen willst!«, ruft eine tiefe Stimme.
Ich fahre zusammen und falle fast hinunter. Mit verschränkten Armen steht Ojore in der Tür, ein Grinsen im Gesicht.
»Wenn ja, habe ich nichts gesehen«, sagt er. »Eine ordentliche Nummer würde dir guttun!«
»Dann mache ich das jetzt.« Ich schaue wieder nach unten. »Du hast nichts gesehen.«
»Oh, da will ich aber mehr wissen.« Ojore schließt die Tür hinter sich. »Du willst dein Leben aufs Spiel setzen? Sag mir wenigstens, wie sie heißt.«
Obwohl er nur Witze macht, muss ich an Zélie denken. An ihre weißen Haare. Ihren silbernen Blick. Ihre dunkle Haut.
Kurz bin ich mit ihr am Wasserfall in der Traumwelt, wo ich seligerweise nichts von dem ahnte, was alles noch kommt. Doch ich kann die Erinnerung nicht genießen, denn schon holt mich der Schmerz ein, den ich empfand, als ihre schwarzen Ranken mich erstickten.
»Was gestern passiert ist, war meine Schuld.« Ich seufze. »Es lag an der Sache mit dem Mädchen. Wenn sie jetzt die Iyika anführt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Lagos erneut angegriffen wird.«
»Und, was willst du dagegen unternehmen?« Ojore verschränkt die Arme. »Mit einem Kuss alles wiedergutmachen?«
»Die Iyika verstecken sich irgendwo im Dschungel. Wenn ich sie ausfindig machen kann, können wir sie angreifen. Ich denke, dass Mutters Magie stark genug ist.«
Ich will hinunterspringen, doch Ojore hält mich am Arm fest. »Du kannst nicht allein losziehen.«
»Ich kann niemanden bitten, sein Leben für mich aufs Spiel zu setzen.« Ich schüttele den Kopf. »Nicht nach dem, was ich zu verantworten habe. Den Iyika ist gestern ein großer Sieg gelungen, aber sie haben auch immense Verluste erlitten. Egal, wie viele es sind, sie werden unaufmerksam werden. Das ist die beste Chance für mich, sie aufzuspüren.«
Ojore sieht mich an, dann stößt er einen schweren Seufzer aus. Stirnrunzelnd verfolge ich, wie er seine Messingrüstung ablegt und neben die Büchse mit schwarzer Farbe legt.
»Was machst du da?«, frage ich.
»Was glaubst du denn?« Ojore hebt eine Hose von mir auf. »Wie schon gesagt: Du kannst nicht allein losziehen.«
Im Schutz der Dunkelheit laufen Ojore und ich los. Wir schleichen uns an den Soldaten und Wachen vor der Tür zu Mutters Gemächern vorbei.
Wir gelangen auf den Marktplatz und brauchen eine geschlagene Stunde, um von dort zu Fuß zu Lagos’ zerstörten Stadttoren zu kommen. Als wir endlich den verbrannten Dschungel vor den Toren der Hauptstadt erreichen und außer Reichweite des Militärs sind, legen wir einen Schritt zu.
»Wir müssen sie eigentlich nur aufspüren«, wiederhole ich meinen Plan. »Wenn wir sie gefunden haben, kann Mutter sich um den Rest kümmern.«
Ich betrachte meine Hände und frage mich, ob meine Kraft ihrer je gleichkommen wird. Aus Neugier rufe ich meine Magie an, doch sofort brennt meine Haut unter den schwachen blauen Flammen, die aus meinen Fingerspitzen züngeln. Obwohl ich sehr vorsichtig war, bekomme ich sofort schreckliche Kopfschmerzen. Ich fasse mir an die Schläfen.
»Tut das immer noch weh?« Ojore beobachtet mich aufmerksam, ich nicke. Je länger es dauert, desto mehr Sorgen habe ich, dass meine Magie so bleiben wird. Vor dem Ritual konnte ich meine Gegner mit meiner Gabe verblüffen. Jetzt lässt sie mich ratlos zurück.
»Es war noch nie leicht«, sage ich. »Aber sonst konnte ich die Magie immer anrufen, wenn ich sie brauchte. Ich hatte mich fast schon daran gewöhnt, dass sie immer da war. Ein Teil von mir.«
Ojore rümpft die Nase, und ich frage mich, ob ich zu viel gesagt habe. Bevor ich noch mehr erzählen kann, raschelt etwas links von mir im Gebüsch.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich ziehe das Schwert und rechne mit einem Angriff der Maji. Als stattdessen eine Tüpfelhyänesse vorbeiläuft, falle ich vor Erleichterung fast auf die Knie.
»Ihr Himmel!« Ich lege die Hand auf die Brust und versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen. Dann sehe ich mich zu Ojore um. Er hat sich nicht von der Stelle gerührt. Mit glasigem Blick schaut er mich an.
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich. Seine Hand zittert. Es dauert einen Moment, bis er wieder er selbst ist. Schließlich wendet er sich peinlich berührt ab.
Ich fühle die Hitze seiner Scham.
»Sollen wir kurz warten?«
»Schon in Ordnung.« Er will weitergehen, doch ich halte ihn am Arm fest und zwinge ihn, stehen zu bleiben. Schweigend warte ich, dass er sich erholt. Es ist seltsam, ihn so zu sehen.
Der Ojore, den ich kenne, stürzt sich in jeden Kampf. Und hat vor nichts Angst.
»Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet die Flammentänzer waren.« Er schließt die Augen. »Ich bin mir sicher, dass die Iyika auch Seelenfänger haben. Oder Siecher. Sie hätten mit allem angreifen können. Aber ausgerechnet mit Feuer.«
Er berührt die Brandwunden in seinem Nacken und verzieht schmerzvoll das Gesicht. Fast kann ich sehen, wie die Flammen in seinem Kopf wüten. Während ich ihn beobachte, frage ich mich, ob Zélie das mit Absicht getan hat. Vor vielen Monden habe ich das Feuer in ihre Heimat gebracht. Ich habe ihr Volk verbrannt. Ihr Haus zerstört.
Es könnte sein, dass sie sich auf diese Weise rächen will.
»Wenn du lieber nicht …«
Ojore hebt die Hand, damit ich schweige. »Sie haben uns lange genug gemartert. Es wird Zeit, dass diese Maden in den Dreck getreten werden, aus dem sie gekommen sind.«
Der Hass in seinem Gesicht wirkt so fehl am Platz, so anders als das Grinsen, das ich von Ojore kenne. Ich will etwas sagen, doch mein Cousin drängt weiter. Ich muss ihm folgen.
Nach einer weiteren Stunde haben wir eine beachtliche Strecke zurückgelegt. Es fühlt sich an, als seien wir auf halbem Weg nach Ilorin. Plötzlich hören wir Stimmen. Wir bleiben stehen. Ich spanne die Muskeln an, wir kauern uns hinter einen Baum und halten Ausschau nach dem Lager der Iyika.
»Hier muss es sein!«, flüstere ich und beuge mich vor, um besser sehen zu können. Ein Dutzend Meter weiter braten die Rebellen eine Hyänesse über offenem Feuer. Sie teilen Holzteller aus. Alle tragen rote Rüstungen.
Nach den Angriffen auf Lagos bin ich davon ausgegangen, hier Dutzende Maji zu finden, doch es sitzen nur neun Personen um die flackernden Flammen. Als ich die Gesichter der Aufständischen sehe, die meine Stadt in Brand gesteckt haben, steigt eine Wut in mir auf, die mit der Wut vergleichbar ist, die Raifa in mir auslöste.
»Wo sind die anderen?«, flüstert Ojore. »Ich habe gehört, dass es Dutzende waren, die Lagos gestürmt haben.«
»Vielleicht sind dies alle, die sie abstellen konnten. Sie brauchen ja nur sicherzustellen, dass keiner von uns aus der Hauptstadt herauskann.«
»Komm, wir gehen zurück.« Ojore stößt mich an. »Deine Mutter und ihre Tîtánen sollten mehr als genug sein, um diese Maji hier auszuschalten.«
Wir stehen auf und wenden uns in Richtung Lagos. Plötzlich versperren uns zwei Rebellinnen den Weg.
»Waffen runter!«, blafft mich die Ältere der beiden an. Die aus ihrer Hand schlagenden Flammen beleuchten ihr zur Grimasse verzerrtes Gesicht. Ojore und ich tauschen einen Blick. Meine Lippen beben. Wir haben keine andere Wahl: Wir lassen die Schwerter fallen und heben die Hände.
»Sagt den Ältesten Bescheid!«, befiehlt das Mädchen. »Sagt ihnen, wir haben den König.«
»Warum warten?« Die andere tritt vor. »Schicken wir ihnen seinen Kopf!«
Ojore hechtet nach seinem Schwert und schlägt der Rebellin den Kopf vom Hals. Ich zucke zusammen. Das Blut spritzt, die Flammentänzerin sinkt zu Boden.
»Daran!«, schreit das Mädchen. Ich reagiere endlich, werfe sie zu Boden und schlage ihr mit dem Ellenbogen gegen die Schläfe.
»Angriff!«, ruft ein Maji am Feuer, und die übrigen Iyika springen auf. Meine Beine sind wie aus Blei. Die Rebellen bilden einen Kreis und singen gemeinsam: »ãòrùn pupa lókè, tú àwọn iná rẹ sórí ilè ayé …«
Sie erheben die Hände zum Himmel und entzünden die rote Sonne. Sie brennt überraschend heftig, so hell, dass sie den Dschungel in karmesinrotes Licht taucht. Die Luft um uns herum knistert, fast zu heiß zum Atmen.
»Wir müssen sie aufhalten!« Ojore stürzt durch den Urwald auf die Flammen zu. Wie ein Besessener rast er voran, tastet unterwegs nach den Wurfmessern in seinem Gürtel. Sein Leben ist ihm egal. Er hat keine Angst vor dem Tod.
»Warte, Ojore!« Ich laufe ihm nach.
In Lagos ertönt der Iyika-Alarm.
Die Hörner heulen ohrenbetäubend laut, obwohl wir schon weit von der Stadt entfernt sind. Während die rote Sonne größer wird, fangen die Bäume um uns herum Feuer. Die Flammen versengen meine Haut.
Ojore ächzt und stöhnt. Er schleudert zwei Messer in die Brust eines Flammentänzers. Als er fällt, stößt die Anführerin der Iyika ein kehliges Brüllen aus. Sie entdeckt Ojore und verzieht angewidert die Lippen.
»Odi iná, jó gbogbo rè ni àlà rẹ!«
Aus dem Nichts erscheint eine Feuerwand. Schlagartig bleibt Ojore stehen. Die Flammen werden immer größer, beleuchten das entsetzte Gesicht meines Cousins.
»Ojore!«, schreie ich, und die Zeit gerinnt. Eine Maji holt aus, will angreifen. Mein Kopf wird leer.
Die Magie in mir schwillt an, eine Woge, die ich nicht kontrollieren kann.
Ich hebe die Hand. Die Magie explodiert mit solcher Wucht, dass ich höre, wie die Knochen in meinem Arm zerbrechen.