Kapitel 27
Inan
Es vergeht eine volle Stunde, bis die königlichen Truppen uns finden. Die Soldaten halten mich fest, während der Sanitäter mir den Arm verbindet. Andere bauen aus Segeltuch ein Zelt über mir auf, so dass ich die Feier im zerstörten Lager der Iyika nicht sehen kann.
Ich beiße die Zähne aufeinander, um nicht laut zu schreien. Es tut so weh, dass ich kaum Luft bekomme. Es fühlt sich an, als sei jeder einzelne Knochen in meinem Arm mit einem Hammer zertrümmert worden.
»Inan, halt still!« Mutter kommt mit verschiedenen bunten Glasröhrchen herbeigeeilt. Sie öffnet eins mit einer dunkelblauen Flüssigkeit und flößt mir das bittere Beruhigungsmittel ein. »Wir suchen noch nach Heilern, aber das hier dürfte schon mal helfen.«
Ich halte mich an ihr fest, sie stützt mich. Den verbundenen Arm versuche ich, nicht zu bewegen. Das Beruhigungsmittel wirkt wie ein Schlag mit einer Keule. Es betäubt die Schmerzen und benebelt meine Sinne.
Ich lasse mich auf das Feldbett sinken, der raue Stoff ist mit meinem Schweiß getränkt. Ich verstehe nicht, was geschehen ist. Meine Magie hat mir noch nie solche Qualen bereitet.
Ich wusste nicht mal, was ich tat, als ich die Hand hob. Ich wollte nur, dass es aufhört.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Macht habe, alle Iyika auf einmal auszuschalten.
»Lasst den König in Ruhe!« Mutter schickt alle nach draußen, dann kniet sie sich neben mich. Kopfschüttelnd fährt sie mit den Fingern durch meine verschwitzten Locken. »Ich könnte dich umbringen.«
»Es tut mir leid«, krächze ich. »Ich dachte nicht, dass wir erwischt werden.«
»Du bist der König , bei allen Himmeln! Wenn du etwas willst, lass es von Soldaten machen! Oder von mir!«
Sie drückt ihre Stirn gegen meine und presst mich an sich. Ihre Hände in meinem Nacken zittern. Sie reißt sich zusammen, um nicht zu weinen.
»Beim nächsten Mal weih mich bitte ein«, flüstert sie. »Ich habe dich gerade erst zurückbekommen. Ich könnte es nicht ertragen, dich noch mal zu verlieren.«
Ich nicke und schließe die Augen; in meiner Erinnerung beleuchten die brennenden Flammen Ojores Gesicht. Dann denke ich an das erste Mal, als ich meine Kraft benutzte und in Chândomblé Admiral Kaea ausschaltete.
»Hast du das schon mal getan?«, will Mutter wissen.
»Ja. Aber es waren noch nie so viele auf einmal.«
»Tu das nie wieder!«, sagt sie. »Diesen Schmerz sollen deine Untertanen ertragen.«
»Eure Majestät!« Generalin Jokôye kommt ins Zelt; ihr Gesicht ist zu einer Art Lächeln verzogen. Sie schiebt ihre Brille hoch und verbeugt sich. »Ich bin erleichtert, dass es euch gutgeht.«
Ojore ist hinter ihr, seine neuen Brandwunden sind verbunden.
»Ich bin dir was schuldig.« Er stößt gegen meinen Fuß.
»Du rettest mir doch ständig den Hintern. Wurde mal Zeit, dass ich mich revanchiere.«
»Ich hatte ja meine Zweifel«, sagt Jokôye. »Aber ich gebe gerne zu, dass ich mich geirrt habe. Es ist unglaublich, wie ihr diese Rebellen überwältigt habt. Wenn wir Lagos befreien, können wir diesen Krieg zu unseren Gunsten wenden.«
Ich ziehe die Zeltplane zur Seite und spähe hinaus. Lautstark feiern unsere Soldaten den Sieg, trinken große Schlucke aus ihren Flaschen.
In der Mitte knien die gefangen genommenen Iyika auf dem Boden. Jeder Rebell ist mit Majazitketten gefesselt und hat einen Sack über dem Kopf.
Ich möchte mich über meinen Sieg freuen, habe aber ein hohles Gefühl in der Brust. Als ich das letzte Mal Maji mit Säcken über dem Kopf sah, führte Vater den Angriff.
»So, und jetzt will ich Antworten.« Jokôye streckt sich und legt die Hand auf ihr Schwert. »Wird Zeit, dass wir den Rest dieser Maden ausfindig machen und auslöschen.«
Sie marschiert ins Lager. Ihr bis zur Taille reichender Zopf hüpft auf ihrem Rücken. Mit einer Handbewegung bringt sie alle zum Schweigen. Die Entschlossenheit in ihrem Blick sorgt dafür, dass mir erneut der Schweiß ausbricht.
»Die Säcke runter!«, befiehlt sie. Ihre Soldaten treten vor und reißen den Maji den Stoff von den Köpfen. Nur das Knistern der Flammen durchbricht die Stille, als Jokôye an den Gefangenen entlanggeht und sie gründlich mustert.
»Eure Attacke war sehr zielgerichtet«, ruft sie. »Jetzt müsst ihr dafür büßen. Sagt mir, wo sich die übrigen Maden verstecken, dann verspreche ich euch, dass ihr eines schnellen Todes sterbt.«
Einige Rebellen lassen den Kopf hängen. Andere versuchen, ihre Tränen zu verbergen. Eine Flammentänzerin schaut zum Mond hinauf. Ihr weißes Haar weht im Nachtwind.
Zähneknirschend bleibt Jokôye vor ihr stehen, provoziert von der Sturheit des Mädchens. Sie packt die Flammentänzerin an der Kehle. Ich zucke zusammen.
»Ich habe was gefragt!«
Das Mädchen wehrt sich, würgt unter Jokôyes fester werdendem Griff. Die Generalin hebt die Maji am Hals hoch. Mir dreht sich der Magen um.
»Antworte mir!«, ruft Jokôye.
Die Flammentänzerin schnappt nach Luft, schaut aber weiter hoch in den Nachthimmel.
»Wenn ich hier sterben muss«, bringt sie hervor, »dann gucke ich lieber in den Mond als in deine hässliche Fratze.«
Jokôye schleudert das Mädchen in den Staub. Hustend ringt die Maji um Luft. An der Art, wie Jokôye sie ansieht, weiß ich, dass sie nicht mehr lange zu leben hat.
Mit pochender Narbe beobachte ich, wie Ojore der Generalin eine Ampulle mit schwarzer Flüssigkeit und eine Spritze reicht.
Es ist, als würde Vater Zélie von neuem foltern.
Ich will aufstehen, doch Mutter drückt die Hand auf meinen Oberschenkel und hält mich zurück.
»Was auch immer du vorhast, lass es!«, zischt sie mir zu. »Sie hatten die Wahl. Du kannst nicht jeden retten.«
Ich weiß, dass sie recht hat, dennoch wird mir übel. Es fühlt sich nicht an, als sei ich ein besserer König.
Es fühlt sich überhaupt nicht so an, als sei ich ein König.
»Weißt du, wie es ist, Majazit im Blut zu haben?« Jokôye zieht die Spritze voll auf. Das flüssige Metall schimmert im Feuerschein. »Zuerst stoppt es diese Krankheit, die ihr als Gabe bezeichnet. Dann verbrennt es euch innerlich.«
In meiner Brust baut sich Druck auf, als würde eine Bombe kurz vor der Explosion stehen. Wenn ich das Mädchen sehe, denke ich an Zélie in Ketten.
Ich erinnere mich an den Geruch ihres verbrannten Fleischs, als Vaters Soldaten ihr in den Rücken schnitten.
»Du hast ein gutes Herz, Inan«, flüstert Mutter. »Das wird dich zu einem guten König machen. Aber du wirst dich aufreiben, wenn du nicht zwischen denen unterscheidest, die du schützen, und denen, die du vernichten musst.«
»Aber Mutter –«
»Diese Rebellen haben die Stadt niedergebrannt. Sie wollten dich und dein Volk hungern lassen. Sie sind Gift für Orïsha! Wenn du diese Hand jetzt nicht abschlägst, wirst du irgendwann den gesamten Arm abtrennen müssen.«
Mit aufeinandergepressten Lippen lasse ich mir ihre Worte durch den Kopf gehen. Ich weiß, dass jeder Maji in Orïsha als Verbrecher gelten wird, solange uns diese Rebellen terrorisieren. Die Iyika müssen vernichtet werden.
Doch obwohl mir das klar ist, winde ich mich innerlich, als Ojore der Flammentänzerin in die Haare packt. Er reißt ihren Kopf zur Seite und bietet Jokôye ihren Hals dar.
»Letzte Möglichkeit«, sagt Jokôye, doch die Maji spuckt sie an. Als die Nadel sich in ihre Haut bohrt, schreit das Mädchen auf.
Wie ein schwerer Stein sackt sie aus Ojores Hand zu Boden. Ihr Körper krümmt sich, wird innerlich vom Majazit verbrannt. Mutter dreht mein Gesicht zur Seite, damit ich nicht zusehe.
»Du hast in wenigen Tagen mehr Gutes getan als andere Herrscher in ihrer gesamten Regierungszeit«, beruhigt sie mich. »Mach weiter! Beende den Krieg, damit du noch mehr Gutes für das Königreich tun kannst.«
Ich nicke, doch mein Blick schweift zu dem toten Mädchen. Jokôye greift zur nächsten Spritze.
»Wer ist jetzt dran?«