Kapitel 32
Inan
Als ich mich zur Kommandozentrale begebe, spüre ich die veränderte Atmosphäre. Seit die Iyika vor einem halben Mond das Leben in Lagos empfindlich gestört haben, lichtet sich nun langsam die Rauchwolke über dem Horizont meiner Stadt.
Die Sonne scheint wieder auf uns herab. Ihre hellen Strahlen beleuchten unseren Wiederaufbau. Wagenweise werden Lebensmittel angeliefert. Kein einziger Bewohner von Lagos hungert.
»Euer Majestät!« Die Soldaten, die vor der Kommandozentrale Wache stehen, salutieren vor mir. Sie machen Anstalten, mir die schwarzen Eichentüren zu öffnen, doch in dem Moment entdecke ich Mutter am anderen Ende des Gangs und bleibe stehen. Sie bemerkt mich nicht. Mit herrischer Miene schickt sie ihre Leibgarde davon und steigt allein in den Palastkeller hinab. Stirnrunzelnd folge ich ihr.
Sie bewegt sich, als wollte sie nicht gesehen werden.
Ich versuche zu verhindern, dass meine Schritte auf der steinernen Treppe laut hallen. Der Palastkeller ist ein weitläufiges Backsteinlabyrinth mit Dutzenden von Verliesen, in denen meine dunkelsten Erinnerungen verborgen sind.
Als Amari und ich klein waren, nahm Vater uns immer mit hinunter. Er zwang uns, gegeneinander zu kämpfen. Bis heute kann ich hören, wie Amaris Schreie von den Mauern zurückgeworfen wurden, als ich einmal die Kontrolle verlor.
Wo bist du nur, Amari? Ich schaue hoch und wünsche mir, Verbindung zu ihr aufnehmen zu können. Mutter ist überzeugt, dass Amari mit den Iyika zusammenarbeitet, aber das traue ich meiner Schwester nicht zu.
Möglich, dass Zélie Lagos niederbrennen will, doch es ist und bleibt Amaris Heimat. Sie sollte an meiner Seite sein. Nicht ganz allein in der Fremde.
»Wo ist der Rest?« Eine raue Stimme hallt durch die feuchten Gänge des Kellers.
Ich bleibe abrupt stehen. Die Stimme gehört einem jungen Mann, der unsere Sprache mit einem seltsamen Akzent spricht. Er kommt nicht von hier. Ich spähe um die Ecke und sehe Mutter mit zwei schwarzgekleideten, maskierten Männern sprechen. Der eine lächelt wie eine Schlange. Der andere hat helle Haut, sandfarben.
Ich habe ihn schon mal irgendwo gesehen …
Ich reibe mir das Kinn und versuche, mich zu erinnern. Irgendwas an dem Kerl kommt mir bekannt vor. Ich weiß, dass sich unsere Pfade gekreuzt haben.
»Den Rest bekommt ihr, wenn ihr die Aufgabe erledigt habt«, sagt Mutter und übergibt einen Samtbeutel mit klimpernden Geldstücken. »Das Majazit war gut, aber das war erst der Anfang. Außerdem kommen mir die Iyika immer wieder in die Quere –«
»Wir haben Besuch«, sagt der Mann mit der hellen Haut
Ich erstarre; alle drei drehen sich zu mir um. Mutters Lippen öffnen sich überrascht. Die Männer zucken nicht mit der Wimper.
»Ihr Halunken!«, zischt sie ihnen zu. »Verneigt euch vor eurem König!«
Der Ausländer schnaubt verächtlich und zählt lieber die Goldstücke im Samtbeutel.
»He!« Ich trete vor. »Du verbeugst dich wohl nicht vor dem König eines anderen Landes?«
»Ich verbeuge mich vor niemandem, den ich töten könnte.«
Er mustert mich von oben bis unten und wendet sich dann wieder an Mutter. »Das reicht fürs Erste. Wir melden uns.«
Ich rechne damit, dass sie die Treppe hinauf nach oben gehen, doch sie verschwinden durch die dunklen Kellergänge, so zielstrebig, dass sie sich in diesem Labyrinth auskennen müssen.
»Was war das denn?«, frage ich Mutter.
»Deine Schwester hat mit ihnen zusammengearbeitet«, erklärt Mutter. »Ich wollte wissen, ob sie Informationen über sie und die Iyika haben.«
»Über Amari?« Ich beuge mich vor. »Und?«
»Dein Gesichtsausdruck ist genau der Grund, warum du nichts davon mitbekommen solltest.« Mutter packt mich am Arm und führt mich zur Treppe. »Ich weiß, dass Amari deine Schwester ist, aber sie ist jetzt ein Feind dieses Königreichs.«
»Und sie ist der einzige Grund, warum ich noch lebe.«
Mutter verliert kein Wort mehr, bis wir vor den Türen der Kommandozentrale stehen.
»Vergiss nicht, du bist dem Thron verpflichtet. Ihn zu schützen, ist deine oberste Aufgabe.«
»Ihre Majestät, der König!«
Alle Ratgeber erheben sich, als Mutter und ich die Kommandozentrale betreten. Ich bin überrascht. Sie setzen sich erst wieder, nachdem ich sie dazu aufgefordert habe.
Vor mich hinlächelnd nehme ich meinen Platz am Kopfende des Eichentischs ein. Auf mein Zeichen steht Ojore auf und geht zur großen Landkarte von Orïsha an der hinteren Wand.
»Ich freue mich, berichten zu können, dass es uns nach dem heldenhaften Einsatz unseres Königs gelungen ist, in diesem Krieg das Blatt zu wenden«, verkündet er. »Seit Lagos von den Iyika befreit wurde, konnten wir wieder eine Nachrichtenverbindung mit den Stützpunkten im Norden aufbauen. Es gab weniger Attentate, und nicht eine Festung wurde mehr eingenommen.«
»Freuen wir uns nicht zu früh!« Mit wippendem Zopf springt Generalin Jokôye von ihrem Platz auf. »Diese Siege sind zwar eindrucksvoll, aber die Iyika stellen weiterhin eine ernst zu nehmende Bedrohung dar. Wir gehen immer noch davon aus, dass sie über zweihundert bis fünfhundert Kämpfer verfügen.«
»Gibt es neue Erkenntnisse über ihren Rückzugsort?«, will ich wissen.
»Wir sind dran. Aber noch nicht nah genug.« Jokôye weist auf den Bergzug nördlich von Lagos. »Nach den Angriffen auf die Festungen in Gusau und Gombe zu urteilen, müssen sie vom Olasimbo kommen. Wir haben Kundschafter losgeschickt, aber bisher ist niemand zurückgekehrt. Allerdings gibt es Hinweise, dass sie erneut unterwegs sind.«
Ojore geht zurück zum Tisch und nimmt zwei Pergamente in die Hand. »Ich denke, ihr alle kennt die ehemalige Prinzessin.«
Er hängt ein altes Fahnungsplakat, auf dem meine Schwester abgebildet ist, an die Wand. Es ist seltsam, Amari so zu sehen. Die zarten Striche der Zeichnung geben nicht wieder, wie sehr sie sich in der Zwischenzeit verändert hat.
»Ihre engste Komplizin ist eine Maji namens Zélie Adebola«, fährt Ojore fort und heftet ein Bild von Zélie neben das von Amari. »Gebürtig aus Ibadan, später wohnhaft in Ilorin. Sie war maßgeblich an der Wiederkehr der Magie beteiligt. Im gesamten Königreich wird sie von den Maji als Kriegerin des Todes bezeichnet.«
Ich will nicht hinsehen, kann aber den Blick nicht von Zélie abwenden. Es ist, als würde sie mich aus der Ferne anschauen. Wildheit steht in ihrem silbernen Blick. Wenn ich sie zu lange betrachte, spüre ich, wie sich ihre Lianen um meinen Hals schlingen. Fühle ich ihre Lippen an meinem Ohr.
Wenn es mir schon schwerfällt, mit einer Zeichnung von ihr in einem Raum zu sein, weiß ich nicht, was ich tun würde, wenn wir uns gegenüberständen.
»Wissen wir, wohin sie wollen?«, frage ich.
»Wir schätzen, sie wollen nach Lagos«, erwidert Jokôye. »Bei einer Kundgebung von Aufständischen in Zaria konnten sie sich unseren Streitkräften entziehen, aber heute wurden sie auf dem Weg nach Süden gesehen.«
»Sie kommen hierher?« Mutters Gesicht wird bleich. »Es dauert noch einen halben Mond, bis unser neuer Verteidigungswall fertig ist.«
»Was ist mit dem Wallgraben?« Hauptmann Kunle tupft sich den Schweiß von den Schläfen. »Es dauert doch Wochen, bevor die Wellenhüter den gefüllt haben!«
Panik breitet sich aus. Ich halte mir die Ohren zu. Irgendetwas passt hier nicht zusammen.
»Admiral, die Aufständischen sind doch bereits an Lagos vorbei. Warum sollten sie erst an uns vorbeiziehen und dann wieder kehrtmachen?«
»Wir glauben, dass sie über diese Route besser in den Palast hineingelangen.« Ojore weist auf eine gewundene Straße. »Ich habe mir die Freiheit genommen, weitere Truppen an die Grenze von Lagos zu beordern, aber wenn wir sie aufhalten wollen, brauchen wir noch mehr Verstärkung.«
Mit gerunzelter Stirn verlängere ich die von den Maji zurückgelegte Strecke. Der Strich führt in den Dschungel von Funmilayo.
Quer durch einen alten Tempel.
Ich schlage auf den Eichentisch und springe auf.
»Ich weiß, wohin sie wollen!« Ich eile zur Landkarte und klopfe auf die alte Leinwand. »Hier befindet sich ein uralter Tempel der Maji. Dort können sie ihre Kräfte verstärken.«
Mutter fällt die Kinnlade hinunter. »Wenn sie bekommen, was sie suchen, könnten sie zu mächtig für uns werden.«
»Dann müssen wir sie abfangen«, sage ich. »Sie kommen aus den Bergen, wir sind dem Tempel näher. Wenn wir noch heute Abend aufbrechen, könnten wir es schaffen.«
»Bist du wirklich in der Lage, deiner Schwester gegenüberzutreten?« Ojore stellt die Frage, die sich niemand sonst zu stellen traut. Mutter und ich tauschen einen Blick und schauen dann schnell zur Seite.
Ich gehe zu den Plakaten und betrachte Amaris Gesicht. Sie hat Vater meinetwillen herausgefordert. Wenn sie nicht dazwischengegangen wäre, würde ich hier jetzt nicht stehen.
»Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich meiner Schwester etwas antun kann«, sage ich, an niemand Bestimmten gewandt. »Aber ich kann sie gefangen nehmen. Besonders, wenn sie und die Iyika eine Bedrohung für das Königreich darstellen.«
Mutter presst die Lippen aufeinander und nickt mir respektvoll zu.
»Was ist mit den anderen?«, fragt Ojore. »Sollen wir sie töten?«
Ich schaue zu den Plakaten, von denen mich Zélies Gesicht anschaut.
»Wenn es irgendwie geht, nehmen wir sie gefangen«, beschließe ich. »Wenn wir sie haben, überlegen wir uns eine angemessene Bestrafung.«