Kapitel 36
Zélie
Es ist, als wäre schlagartig alle Luft aus dem Tempel gesaugt.
Meine Ohren werden taub.
Ich nehme nur noch ihn wahr.
Ich will die Wut spüren, die ich in der Traumwelt empfand. Um die in meinem Stab versteckten neuen Klingen zu benutzen. Aber wenn ich den jungen Prinzen ansehe, ist es, als sei die Luft zu schwer zum Atmen.
»Inan?« Amaris Stimme hallt durch die Leere in meinem Kopf. Die Augen ihres Bruders wandern zu ihr.
Dann erblickt er mich.
Lauf!
, dröhnt es durch meinen Schädel. Bete!
Ich greife nach meinem Stab, doch nun, da ich Inan so nah bin, kann ich fast fühlen, wie seine zitternden Finger über meine nackte Haut streichen.
Wir starren uns an, und die Zeit springt, zwingt uns zurück in die Gegenwart. Die Rufe der Soldaten um uns herum dringen zu mir vor. Schwerter werden aus Scheiden gezogen.
»Nicht angreifen!«, ruft Inan.
Hinter ihm wird es dunkel. Eine Generalin mit einer weißen Strähne im Zopf hält eine schwarze Wolke Majazitgas bereit.
Die Soldaten bleiben stehen. In dem Moment stürzt Nehanda in den Gang und entdeckt uns. »Eliminiert die Iyika!«, schreit sie aus Leibeskräften.
»Nein, Mutter!«, ruft Inan, doch er kann seine Leute nicht aufhalten. Die Generalin schleudert ihre Hand nach vorn, eine Wand aus schwarzem Gas bildend. Das Majazit rast wie eine Kanonenkugel auf uns zu.
»Atégùn ãrìsà!«
Jahi stürzt nach vorn, beide Arme von himmelblauem Licht umgeben. Mit einem Stöhnen streckt er die Hände aus, und ein Zyklon schießt aus seinen Handflächen.
Heulend verdrängt der Wirbelsturm das Majazitgas und drückt die Soldaten nach hinten. Inan wird durch die Luft geschleudert. Verzweifelt krallt er sich an einer Wandfackel fest. Selbst die Generalin wird weggeschoben. Auch sie hat der Kraft des Windflüsterers nichts entgegenzusetzen.
»Zélie, wir brauchen dich!« Amari umklammert meine Handgelenke. Ihre Haare werden in alle Richtungen gepeitscht. Sie legt meine Hände auf die Wand. Verschwommen erinnere ich mich daran, wie Lekan hier stand und die Wand öffnete.
Bitte!
Inmitten des Chaos versuche ich, mich zu konzentrieren. Lekan, ràn mí lówó. Wir müssen da rein!
Der Stein beginnt unter meinen Fingern zu vibrieren, mehr geschieht jedoch nicht. Irgendetwas fehlt noch. Etwas, das ich nicht allein in der Hand habe.
»Sie kommen wieder näher!«, ruft Jahi hinter uns. Die Winde wehen meine Haare umher. Immer mehr Tîtánen eilen ihrer Generalin zur Hilfe und verstärken die Kraft des Windes.
Irgendwann flaut Jahis Wirbelwind ab. Mit zitternden Fingern sehe ich, dass Inan mit einem Fuß wieder den Boden berührt. Nehandas goldene Tîtánen biegen um die Ecke, die Königin hebt die Arme.
Bitte, Lekan! Ich weiß, dass du bei mir bist!
Ich lege die Stirn an die heiße Mauer. Mo nílò ìrànlówó rẹ. Wá bá mi báyìí …
Mein Nacken beginnt zu glühen. Die Tätowierungen brennen.
Goldenes Licht wandert über meine Finger und brennt sich in den Stein, bis sich in der Mitte ein Riss bildet. Ein Durchgang!
»Los!« Ich schiebe Mâzeli in die Bibliothek. Als sich die Mauer teilt, folgen ihm die übrigen Maji. Jahi kommt als Letztes. Rückwärts tritt er durch die Spalte, sein Zyklon erstirbt endgültig.
»Haltet sie auf!«, keift Nehanda. Ihre Soldaten preschen los. Mir ist schwindelig, dennoch lege ich die Handflächen auf den Stein. Mit einem Beben beginnt sich die Wand zu schließen.
Ein Soldat löst sich mit ausgestrecktem Schwert von den anderen. Er holt aus. Amari reißt mich nach hinten.
Mit einem Knirschen durchtrennt die sich schließende Wand seinen Arm wie einen Ast.
Alle schreien auf, als der abgetrennte Arm auf den Boden der Bibliothek fällt. Die Hand hält das Schwert umklammert, es ist mit Blutstropfen übersät.
Meine Beine werden taub, ich sacke auf die Knie. Schweiß tropft mir aus allen Poren. Wir haben es in die Bibliothek geschafft.
Doch wie im Namen der Himmelsmutter sollen wir wieder hinauskommen?