Kapitel 37
Inan
Es ist, als würde mein Geist über meinem Körper schweben, wie in einer Blase. Das Wiedersehen mit Zélie hat die Zeit stillstehen lassen.
Vielleicht wird das immer so sein.
Ich betaste die unauffällige Wand; nicht mal ein kleiner Knick verrät, wo sich die Steinblöcke geteilt haben. Ich kann mich kaum auf die hier wirkende Magie konzentrieren, solch ein Chaos herrscht in mir.
Sie ist hier …
Die Erkenntnis müsste mir Angst machen. Doch jetzt, da uns nur noch eine Mauer trennt, verschmelzen alle Worte, die ich ihr sagen will, zu einem sinnlosen Gewirr von angefangenen Sätzen. Fragmente ohne Zusammenhang.
Ich hatte angenommen, die Verbindung, die Zélie und ich miteinander hatten, sei zerstört. Irreparabel beschädigt. Doch wie sie mich angesehen hat …
Ihr Himmel!
Es ist so lange her, dass ich ihren Meersalzgeruch in der Nase hatte.
»Euer Majestät!« Generalin Jokôye kommt den Gang hinuntergelaufen, Mutter und Ojore auf ihren Fersen. Beim Anblick der drei beginnt meine Narbe zu brennen. Nach dem, was eben geschehen ist, werden sie nicht mehr aufzuhalten sein.
Ich wollte die Rebellen angreifen, doch nach nur einem Blick auf Amari und Zélie war ich kaum noch in der Lage, ein Kommando zu geben. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Wen ich schützen muss.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Jokôye keuchend.
»Mir geht’s gut.« Ich nicke bekräftigend. »Aber die Iyika sind hineingelangt.«
»Umstellt den Raum.« Jokôye dreht sich zu den Soldaten um. »Wenn sie über einen Tunnel hineingelangt sind, versuchen sie es vielleicht auf demselben Weg hinaus. Chidi, kümmere dich um Emeka. Bring ihn zu einem Sanitar.«
Als zwei Soldaten den dritten hochheben, der seinen Unterarm verloren hat, wende ich den Blick ab. Die Schreie des armen Jungen stechen mir wie Messer in die Ohren. Ich umklammere die Bronzemünze.
Mit nur sieben Leuten haben die Iyika Dutzende unserer besten Leute niedergemetzelt. Es sind nur noch vierzig Soldaten übrig. Ich weiß nicht, ob wir sie überwältigen können.
»Ruft unsere Truppen zusammen!«, befiehlt Jokôye. »Ich will, dass jeder einzelne Tîtán vor dieser Wand steht!«
»Keine Rücksicht mehr«, schreit Mutter. »Tötet sie!«
»Moment, Generalin Jokôye!« Ich unterbreche die beiden, bevor ihre Befehle in die Tat umgesetzt werden. »Es bleibt dabei: Die Iyika sollen lebendig gefangen genommen werden.«
»Bei allem Respekt, Euer Majestät, aber wir können es uns nicht leisten, sie zu schonen!« Jokôye weist in den Gang, und ich bin gezwungen, das Blut meiner Soldaten zu registrieren. In der Ecke versorgt ein Sanitar den Soldaten, dessen Arm abgetrennt wurde. Das Stöhnen des betäubten jungen Mannes hallt durch die gewundenen Gänge.
»Ich verstehe Euer Zögern«, fährt Jokôye fort, »aber die Iyika haben für das, was in dem Raum ist, ihr Leben aufs Spiel gesetzt.«
»Sie hat recht, Inan.« Mutter legt mir die Hand auf die Schulter. »Wir dürfen nicht zulassen, dass sie es bekommen. Vielleicht sind sie danach nicht mehr aufzuhalten.«
Ein stechender Schmerz fährt mir in den Magen, so heftig, dass ich mich gegen die Mauer lehnen muss. Tief in mir weiß ich, dass die beiden recht haben. Ich kann nicht zulassen, dass die Iyika diesen Tempel lebend verlassen.
Ehre und Pflichterfüllung , hat Vater immer gesagt. Die Pflicht zu erfüllen, ist das Allerwichtigste.
Beim letzten Mal habe ich mich für ihn entschieden, für ihn und Orïsha; Amari und Zélie hingegen haben alles für mich aufs Spiel gesetzt.
»Wenn die Rebellen hier sterben, wird der Krieg weiter eskalieren. Dann werden wir ihr Lager niemals finden. Ich will sie lebendig haben!« Ich wende mich an Jokôye. »Das ist ein Befehl, Generalin Jokôye, kein Vorschlag.«
Flatternd schließt sie die Augen. Ich merke, dass sie sich auf die Zunge beißt.
»Soldaten, bringt den König ans andere Ende des Gangs! Ich will ihn nicht dabeihaben, wenn die Wand aufgeht.« Jokôye betastet die weiße Strähne in ihrem Zopf, dann legt sie die Hand auf die geschwungene Wand.
»Seid bereit, die Aufständischen zu fassen! Sie sind hierdurch reingekommen. Das heißt, sie können auch nur hier wieder heraus.«