Kapitel 38
Zélie
Kenyon trommelt mit den Fäusten gegen die Wand der Bibliothek, das Donnern setzt sich in den Metallregalen fort. Immer wieder schlägt der Flammentänzer zu, bis Kâmarū seine Hände festhält.
»Reiß dich zusammen!«, ruft der Erdsänger. »Wenn wir jetzt keinen kühlen Kopf bewahren, kommen wir hier niemals raus!«
Kenyon reißt sich los und boxt wieder gegen die Wand. »Wir dürften gar nicht hier drin sein!«
Der Zorn des Flammentänzers trägt wenig dazu bei, die Panik einzudämmen, die wir alle empfinden. Ich will etwas sagen, aber das Klingeln in meinen Ohren macht es mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich Inan gesehen habe, oder weil der Zugang zur Bibliothek so viel Kraft gekostet hat. Ich betaste die Tätowierungen in meinem Nacken. Die wirbelähnlichen Zeichen sind immer noch heiß.
»Jahi!«, ruft Dakarai erschrocken. Ich drehe mich um. Der Windflüsterer liegt auf dem Boden, sein Körper zittert von der Anstrengung des Zyklons, den er im Gang ausgelöst hat. Dakarai kniet sich neben ihn.
»Diese Tîtánin!«, keucht Jahi. »Wie die sich bewegt hat …«
Bei den Göttern!
Ich schüttele den Kopf.
Wir sind verloren.
»Mâzeli, ist alles in Ordnung?« Ich drehe mich zu meinem
Adjutanten um, der immer noch an der Stelle steht, wo die Wand sich geöffnet hat. Der blutige Unterarm des Soldaten liegt auf dem Boden.
»Keine Sorge.« Ich wische einen Blutstropfen von Mâzelis Wange und zwinge ihn, sich zu mir umzudrehen. »Ich bringe uns hier raus. Versprochen.«
Ich lege die Hände auf das kühle Metall der Wände, und die Temperatur sinkt, während meine Magie schwindet. Als ich etwas mehr Druck ausübe, beginnen meine Handflächen zu kribbeln. Es ist dasselbe Gefühl auf der Haut, das ich bei Inans Berührung hatte.
»Hast du das mitbekommen?«, fragt Amari mit bebender Stimme. »Inan hat seinen Leuten gesagt, sie sollten uns nicht angreifen …«
»Das Schwein ist mit der Hälfte seiner verfluchten Armee hergekommen!«, fährt Kenyon sie an. »Er ist nicht hier, um Frieden zu schließen!«
»Seid leise, alle!« Mâzelis hohe Stimme übertönt die anderen. Seine Hände zittern, dennoch setzt er sich durch und bringt uns alle zum Schweigen. »Wir sind hier reingekommen, so unwahrscheinlich das auch war. Also finden wir auch einen Weg heraus. Aber wir müssen zusammenhalten und diese Rollen mitnehmen!«
Er lässt den Blick durch die heilige Bibliothek schweifen, wir tun es ihm nach. Als ich zum letzten Mal hier war, hatte Tzain mich über seine Schulter geworfen; der Rausch der damals gerade erwachten Magie betäubte meine Sinne. Was ich für Wände aus Gold hielt, war tatsächlich eine reflektierende Substanz, die ich nie wieder irgendwo gesehen habe. Sie taucht den Raum in einen weichen orangefarbenen Ton, wie der Sonnenuntergang in einem Glasstein.
»Wenn mein Vater das sehen könnte …« Leise pfeifend setzt sich Kâmarū auf den Boden. Wir sind umgeben von Regalen, die sich bis zur Kuppeldecke strecken, prall gefüllt mit dünnen bunten Schriftrollen.
Mâzeli sieht sich das Regal mit den Baajis der Seelenfänger genauer an und betastet die Lücken, in denen sich die Rollen befanden, die Lekan mir geschenkt hat. Doch auch ohne sie stapeln sich hier immer noch Unmengen von Beschwörungsformeln.
Mit Hilfe dieser Rollen könnten die Iyika eine unaufhaltsame Macht werden.
»Kâmarū!« Amari kniet sich neben den Erdsänger, die Stirn sorgenvoll in Falten gelegt. Er drückt eine Hand auf seine sich schnell hebende und senkende Brust. Immer wieder geht sein Blick in die Ferne. »Wenn wir so lange warten, bis du wieder bei Kräften bist, könntest du dann einen Weg durch diese Substanz brechen und uns herausbringen?«
»Das ist weder Erde noch Metall.« Er schüttelt den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Amari fährt sich mit der Hand durch die zerzausten Locken, dann wendet sie sich an Dakarai. »Kannst du mit derselben Beschwörungsformel einen Weg durch das Haupttor finden?«
»Schätze schon.« Dakarai ist vorsichtig. »Aber das wäre nicht einfach angesichts der Soldaten dort …«
»Um die mach dir keine Sorgen«, unterbricht Amari ihn. »Packt so viele Rollen wie möglich ein! Kenyon, du verbrennst den Rest.«
»Nein, Amari!« Ich schnelle herum und blinzele, weil es in meinen Ohren noch lauter schrillt. Bei Amaris Anblick summen meine Tätowierungen. Mein Blick verschwimmt, ich schüttele den Kopf.
»Das sind heilige Beschwörungsformeln!«, rufe ich. »Legenden unseres Volks, die dann verloren sein werden.«
»Wir sind im Krieg.« Sie antwortet mir mit einem kühlen Blick. »Diese heiligen Beschwörungsformeln sind Waffen
. Willst du sie wirklich der Monarchie überlassen?«
Ihr Argument tut weh, aber ich weiß, dass sie recht hat. Als wir die Hunderten von Schriftrollen betrachten und stumm rechnen, wie viele davon wohl verbrennen werden, wird uns ganz schummrig.
»Woher wissen wir denn, welche wir mitnehmen sollen?«, fragt Mâzeli.
»Das wissen wir nicht. Wir können nur darauf achten, dass wir für jeden Clan gleich viele Rollen mitnehmen«, sagt Amari. »Alle Maji-Clans brauchen die Macht dieser Waffen.«
Sie nimmt ihre Ledertasche von der Schulter und geht zum Regal der Geistwandler. Weil sich außer ihr niemand in Bewegung setzt, bleibt sie stehen.
»Worauf wartet ihr?« Amari weist in die Runde. »Schnappt euch die Rollen, und dann nichts wie weg!«
Auch wenn sich einige sträuben, verbreitet Amaris Entschlossenheit eine gewisse Ruhe im Chaos. Einer nach dem anderen tut es ihr nach und füllt sich die Taschen so, als würden auf der anderen Seite der Mauer keine Soldaten lauern.
Amari kommt zu mir. »Was auch immer du mit Inan vorhast, tu es nicht heute«, sagt sie. »Wenn schon nicht mir zuliebe, dann wegen Mâzeli. Hier herauszukommen, wird deine volle Aufmerksamkeit beanspruchen.«
Ich beiße die Zähne aufeinander und lasse Amari stehen, um mich in die Mitte des Raums zu begeben. Wie kann sie es wagen, mir zu erzählen, was ich zu tun und zu lassen habe?
Es interessiert niemanden, dass mein Herz in der Nähe von
Inan wie ein eingesperrter Kolibri flattert. Wenn sich diese Mauer öffnet, werde ich meine neue Klinge in seine Brust bohren. Ich habe keine andere Wahl.
»Zélie, versprich es mir!« Amari packt mich am Arm. Bei ihrer Berührung dreht sich der Raum. Ich wanke und halte mich am nächsten Regal fest. Mir bricht der Schweiß aus.
»Ist alles in Ordnung?«
Ich will nicken, doch mein Kopf pocht unerträglich. Der Schmerz lässt meine Beine wanken. Meine Tätowierung glimmt golden. Ich kippe vornüber.
»Zélie!«, ruft Amari.
Alle drängen sich um mich, doch der Schmerz ist so heftig, dass ich nichts sehen kann. Ich knirsche mit den Zähnen. Die Tätowierung wird immer heißer, sie versengt mich wie ein in Fleisch gepresstes Brandeisen.
Meine Haut fängt an zu dampfen, mein Körper zittert. Unwillkürlich fasse ich mir mit den Händen an die Kehle, wo die Tätowierung glüht. Auf einen Schlag werden die orangeroten Wände der Bibliothek schwarz.
Licht schießt von meinen Lippen. Alle sehen mich gebannt an.
Der Lichtstrahl bricht aus meinem Mund wie eine Schlange aus ihrem Käfig. Er windet sich um meinen Kopf, so fest, dass ich keine Luft mehr bekomme.
Ein Luftschwall steigt aus meinem Körper und drückt die anderen an die Wand. Amari prallt mit solcher Wucht gegen ein Regal, dass eine Kiste mit Schriftrollen herunterfällt.
»Jagunjagun!«
, ruft Mâzeli, als der goldene Strahl den Raum um uns herum verändert. Wirbel in Dunkelblau und Violett umgeben uns, als würde die Nacht durch gläserne Wände hereinsickern. Funkelnde Sterne gehen auf.
Das goldene Glühen in meiner Brust leuchtet so hell, dass
meine Rippen als dunkle Konturen zu sehen sind. Ich keuche, mein Rücken krümmt sich Richtung Decke, meine Füße verlassen den Boden.
»Halt dich fest!« Amari rappelt sich auf und läuft zu mir. Sie klettert auf ein umgekipptes Regal, um mich zu erreichen. Goldenes Licht sickert aus meinen Augen.
Amari greift nach meiner Hand. Kaum berühren sich unsere Finger, entzündet sich ein kobaltblaues Licht in ihrer Brust.
»Zélie, was ist das?«, ruft sie und verliert ebenfalls die Kontrolle über ihren Körper. Ihre Füße schweben in der Luft. Ohne es zu wollen, steigt Amari neben mir auf, als würde eine unsichtbare Hand sie hochheben.
Kosmische Energie sickert in den Raum zwischen uns, Rauch in Regenbogenfarben windet sich durch die Luft. Bei Amaris Berührung erfüllen Hunderte Stimmen meinen Kopf, Stimmen, die ich seit dem heiligen Ritual nicht mehr gehört habe.
Àwa ni omo re nínú èjè àti egungun!
A ti dé! Ìkan ni wá …
In meinem Kopf dröhnen Beschwörungsformeln, gleichzeitig habe ich Dutzende verschiedener Herzschläge im Ohr. Sie klopfen immer schneller, meine Tätowierungen breiten sich auf meiner Haut aus. In dem Moment erblicke ich ein kobaltblaues Lichtband, das von Amaris Brust ausgeht.
Mit großen Augen erinnere ich mich an meine Ìsípayá und die bunten Kraftfäden, die sich zu einem verwoben. Jetzt geschieht dasselbe, nur dass Amaris Ashê nicht bunt, sondern rein blau ist.
Die kobaltblauen Bänder verknüpfen sich vor ihrem Körper zu einer Energiekugel, die so mächtig ist, dass das Licht den gesamten Raum erhellt. Blaue Ashê umknistert Amaris Körper. Das Licht leuchtet aus ihren bernsteinfarbenen Augen …
Ebenso schnell ist alles verschwunden.
Mit einem dumpfen Geräusch falle ich zu Boden. Mein Körper wird durchgeschüttelt. Amari landet gegenüber von mir. Blaue Blitze schießen in alle Richtungen.
Stöhnend fasse ich an meine Schulter und rolle mich auf die Seite. Das sanfte orangefarbene Licht im Raum kehrt zurück.
»Jagunjagun!«
Mâzeli stürzt zu mir. »Ist alles in Ordnung?«
Innerhalb von Sekunden sieht die Bibliothek wieder aus wie zuvor. Nichts weist auf das Chaos hin, das ich gerade entfesselt habe.
»Was war das?«, fragt Dakarai.
»Ich weiß es nicht.« Ich schüttele den Kopf und schaue auf meine goldenen Tätowierungen, die immer noch schwach leuchten. Die wirbelartigen Symbole sind jetzt nicht mehr auf meinen Hals und Nacken beschränkt, sondern ziehen sich bis über Schultern und Arme. Ich spüre die sengende Hitze bis in den Rücken.
Währenddessen dröhnen die Herzen der anderen wie Trommeln in meinem Kopf. Je lauter sie klopfen, desto besser sehe ich die Ashê unter ihrer Haut leuchten.
»Bei den Göttern …«
Perplex blinzele ich. Durch die Adern der Maji fließt Ashê. Sie durchdringt ihren gesamten Körper, wie Blut. Unter Kâmarūs Herz flackert ein smaragdgrünes Licht wie eine Flamme. Mâzelis violette Glut schimmert durch seine dunkle Haut. Doch als ich Amari ansehe, traue ich meinen Augen kaum.
Ihr blaues Licht lodert in all ihren Gliedmaßen wie eine Fackel.
»Was ist?«, fragt sie.
Ich finde keine Worte. Ashê strahlt aus ihrem Herzen wie ein Stern. Es ist so dunkel vor Kraft, dass es fast schwarz wirkt.
Mit so viel Ashê im Blut dürfte sie eigentlich keine zwei Minuten überleben, schon gar nicht zwei Monde. Ich greife nach ihrer Hand und entzünde von neuem das dunkelblaue Glühen in ihrer Brust.
»Was machst du mit mir?«, keucht sie, als das Licht ihre Augen erreicht. Kobaltblaue Wellen ziehen durch die gläsernen Wände, während ihre Magie immer stärker wird.
Wieder verändert sich die Bibliothek. Ich denke an die blauen Lichtbänder, die sich aus ihr wanden. Die Vision, die mir Oya in meiner Ìsípayá zeigte. Damals wusste ich nicht, was ich sah, aber ich verstand, welch große Macht diese verflochtenen Lichtfäden besitzen.
Ich lasse Amaris Hand los und drehe mich zu den anderen Ältesten um. Auf einmal bekommt alles einen Sinn. Ich verstehe, was der Grund für Nehandas unglaubliche Kraft ist.
»Das war es, was Oya mir bei meinem Aufstieg gezeigt hat«, stoße ich aus. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie wir die Königin besiegen können.«