Kapitel 39
Amari
»Das verstehe ich nicht.« Mâzeli greift nach Zélies Hand, doch nichts geschieht. Als Kenyon, Jahi und Kâmarū nacheinander versuchen, eine Reaktion bei ihr hervorzurufen, werden ihre Tätowierungen schwächer.
Doch sobald sie meine Hand berührt, entzündet sich das Kobaltblau unter meinem Herzen. Ich drücke die Finger auf mein Brustbein und kann sie spüren: die Vibrationen der sich aufbauenden Magie.
»Ich kann sie sehen«, sagt Zélie. »Deine Ashê. Sie fließt in riesengroßen Mengen durch deinen Körper. Mehr, als ein einzelner Mensch eigentlich haben kann.« Sie betrachtet mich genauer und sieht etwas, das den anderen verborgen bleibt. »Vielleicht kannst du die Magie der Tîtánen aufsaugen, so wie deine Mutter!«
»Was?« Ich blinzele. Das ergibt keinen Sinn. So, wie Mutter sich bewegt, wie sie die Kraft von sich schleudert – selbst in meinen stärksten Momenten habe ich diese Art von Kraft nicht annähernd erreicht.
»Zélie, du warst mit mir auf diesem Hügel«, sage ich. »Meine Magie funktioniert nicht so.«
»Woher wollen wir das wissen? Du warst doch kaum in der Nähe von anderen Tîtánen!« Sie führt mich zur Wand und zieht meine Hände auseinander. »Als Nehanda uns auf der
Kundgebung angegriffen hat, war sie von Erdsänger-Tîtánen umgeben. Sie hat deren Magie in ihre Hände gesogen.«
Ich will Zélie meine Hand entziehen, halte aber inne, als ich etwas hinter der Wand wahrnehme. Die Magie in meiner Brust beginnt sich zu regen, meine Knochen erbeben.
»Spürst du das?«, fragt Zélie, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich bejahen kann. Wenn ich die Hände fest auf die Wand presse, sickert das Pulsieren ferner Herzschläge in meine Ohren.
Drei … vier … fünf …
Ich zähle verschiedene Rhythmen. Je mehr ich mich konzentriere, desto deutlicher werden sie.
»Versuch es mal!«, ermutigt mich Zélie und verschränkt die Hände hinterm Rücken. Das dunkelblaue Licht schimmert in meiner Brust und leuchtet sanft aus meinen Augen. Es nimmt an Stärke zu und taucht die Welt vor mir in blaue Töne. Ich atme tief durch und konzentriere mich auf jeden einzelnen Herzschlag hinter der Wand.
»Genau so.« Zélie senkt die Stimme. »Ich kann sehen, wie die Magie in dir wächst.«
Meine Haut beginnt zu brennen, aus meinen Fingern sprüht dunkelblaues Licht. Die Magie nimmt Fahrt auf. Ich knirsche mit den Zähnen.
»Noch ein bisschen mehr«, drängt Zélie. »Öffne deine Hände!«
Ich spreize die Finger noch stärker und halte den Atem an.
Blaue Ashê schwebt durch die gläsernen Wände.
»Bei den Himmeln …« Ich taumele zurück, schaue fassungslos auf die Magie, die in meine Hände steigt. Es zwickt, ist jedoch nicht unangenehm. Es fühlt sich fast gut an.
»Das ist nicht möglich!«, stößt Kâmarū aus. »Bei keinem Maji oder Tîtánen!«
»Das sind keine Tîtánen«, entgegnet Zélie. »Oya hat
versucht, es mir in meiner Ìsípayá zu zeigen. Diese Menschen können die Kräfte von Tîtánen aufnehmen, wenn sie dieselbe Art von Magie haben. Sie sind eher so etwas wie … Cênter.« Sie hat das Wort gerade erfunden.
»Bei den Himmeln«, stoße ich aus, als mir klarwird, was das bedeutet. »Wenn ich wie meine Mutter bin …«
»Genau.« Zélie nickt. »Mit genügend Geistwandler-Tîtánen könntest du sie so vernichtend schlagen wie Ramaya!«
Ich starre auf meine Hände, die die Magie wie ein Feuerschein umspielt. Ich wusste nicht, wie ich Mutter schlagen soll. Wo ich ansetzen könnte, um diesen Krieg zu beenden. Doch mit dieser Fähigkeit sieht es anders aus – das könnte der Weg zum Sieg sein. Der Weg zum Thron. Ich brauche keine Armee oder Maji.
Ich brauche nur meine eigene Gabe.
Mit geballter Faust schaue ich zur Wand und stelle mir die Armee auf der anderen Seite vor. Was könnte ihr nächster Schachzug sein, und wie könnte ich ihn kontern?
»Kannst du die Wand noch mal öffnen?«, frage ich Zélie.
Sie nickt. »Dann holt so viele Schriftrollen wie möglich! Ich habe einen neuen Plan!«
»Sind alle so weit?«, rufe ich.
Die anderen nicken angespannt. Zélie nimmt ihren Platz an der Wand ein. Wir treffen die letzten Vorkehrungen. Kenyon stellt sich auf die andere Seite.
Wir kommen hier raus.
Ich atme aus, balle die Fäuste und löse sie wieder. Du hast keine andere Wahl. Jetzt hast du endlich die Macht, diesen Krieg zu beenden.
Ächzend schiebt Jahi das letzte Regal gegen die hintere Wand,
unsere Barrikade. Ich quetsche mich neben ihn und warte mit angehaltenem Atem darauf, dass Zélie die Wand öffnet.
»Ich habe dich falsch eingeschätzt«, sagt Jahi zu mir. »Du bist gar nicht so übel.«
»Mal sehen, was du denkst, wenn wir es über die Brücke geschafft haben.«
Ich krieche weiter und spähe aus unserem Versteck zu Zélie hinüber. Sie hat die Handflächen auf die Steinmauer gelegt und wartet wie eine Salzsäule auf Kenyons Beschwörung.
»Sobald sich diese Mauer öffnet, läufst du los«, sagt er. »Sonst wirst du nämlich verbrennen.«
Zélie nickt, Kenyon streckt die Hand aus. Mit angespannten Muskeln höre ich seine Beschwörungsformel.
»Ìlànà iná, hun ara rẹ pèlú mi báàyí …«
Als aus Kenyons Händen zwei Strahlen glutheißen Feuers schießen, halte ich schützend die Hand vor die Augen. Sie verflechten sich wie Bänder, schlingen sich umeinander und bilden eine Kugel hinter Zélie.
Die Luft beginnt vor Hitze zu knistern, der Feuerball schwebt vor uns wie eine Sonne. Als sich schwarze Flecken auf seiner Oberfläche bilden, rufe ich: »Öffne die Mauer!«
Zélie schließt die Augen. Die Tätowierungen in ihrem Nacken erwachen flackernd zum Leben. Ich halte die Luft an. Die goldene Kugel schwebt zu ihren Fingern und durchtrennt den metallischen Stein.
Zélie hechtet hinter ein Eisenregal. Der unsichtbare Riss geht mitten durch die Wand. Mit einem Krachen öffnet sich ein Durchgang. Die Schreie von Soldaten dringen vom Gang zu uns hinein.
»Setzt sie gefangen!«
Die Druckwelle der heulenden Winde dämpft den Ruf der
Generalin. Die Böen werden immer stärker, zwei durch den Gang tobende Zyklone. Meine Haare werden hin- und hergepeitscht.
Als die Luftkugeln wie Kanonen auf Kenyons Feuerball zurasen, kommt die Zeit zum Erliegen.
Ich halte mir die Ohren zu.