Kapitel 42
Inan
Ojore verschließt den Verband um meinen Unterbauch. Bei der Berührung zucke ich zusammen. Mit Hilfe eines anderen Soldaten bettet er mich auf eine Liege aus Segeltuch. Ächzend heben sie mich hoch.
Auf dem Weg durch die heiligen Hallen tue ich so, als würde ich vor Schmerz die Augen zukneifen. Da die Iyika fort sind, höre ich um uns herum nur das Stöhnen der Verletzten und die Stimmen der Sanitare, die ihnen helfen.
Was hast du dir dabei gedacht?
Mit pochendem Herzen schiele ich zu Ojore hoch. Seit ich seine Attacke pariert habe, hat er kein Wort mehr gesagt, doch ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Wenn er Mutter erzählt, was ich getan habe …
Ich umklammere die Bronzemünze und verdränge den Gedanken. Ich bin der König.
Sein Wort steht gegen meins.
Als wir aus dem Tempel kommen, erblicke ich Mutter.
»Inan!« Sie schiebt den Heiler zur Seite, der sich um ihre Verbrennungen kümmert, und steht auf.
»Was ist passiert?«, fährt sie Ojore an. »Du sollst ihn doch mit deinem Leben beschützen!«
»Das hat er getan, Mutter«, verteidige ich ihn schnell. »Ojore hat eine Klinge aufgehalten, die mein Herz durchbohren wollte.«
Mutter fällt die Kinnlade hinunter. Sie wirft Ojore die Arme um den Hals. »Bei den Himmeln! Wie oft werde ich dir noch dafür danken, ihm das Leben gerettet zu haben?«
Ojore sieht mir in die Augen und beißt die Zähne aufeinander.
»Nicht nötig«, sagt er. »Ich würde es immer wieder tun.«
Ich muss schlucken und weiche seinem Blick aus. Keine Ahnung, wie lange er mein Geheimnis deckt, doch zumindest fürs Erste ist es bei ihm sicher. Ich kann nicht erklären, was im Tempel passiert ist; ich verstehe es selbst kaum. Zélie sah diesen Jungen mit einer Inbrunst an, die stärker als mein Schmerz war.
Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sie durch meine Hand noch jemanden verliert.
»Ihr müsst euch in Sicherheit bringen.« Mutter treibt uns vor sich her. »Die anderen warten schon auf der anderen Seite der Brücke.«
»Was hast du vor?«, frage ich.
Sie setzt ihre goldene Maske auf. »Dieser Ort ist eine Kraftquelle unserer Feinde.«
Meine Finger werden kalt. »Nein!« Ich will aufbegehren, doch der Schmerz schießt mir in die Seite. »Dieser Tempel ist möglicherweise der älteste in ganz Orïsha. Er birgt die Geschichten unserer Vergangenheit!«
Auch wenn Chândomblé nicht für mich gebaut wurde, spüre ich seinen Puls wie den Herzschlag dieses Landes. Ich denke daran, wie ich vor vielen Monden über den heiligen Boden lief und Zélie suchte. Wie ich vor dem Bild von Ori kniete. Dieser Tempel war der einzige Ort, der den Lärm in meinem Kopf stillen konnte.
»Das geht nicht«, sage ich. »Ich verbiete es.«
Mutter spitzt die Lippen. Ich kann sehen, dass sie hinunterschluckt, was sie am liebsten hinausschreien würde.
»Der Tempel ist eine Brutstätte aufrührerischer Maden«, zischt sie. »Keine historische Sehenswürdigkeit!«
Auch unter Ojores prüfendem Blick gebe ich nicht nach.
»Die Iyika waren wegen der Magie des Tempels hier«, erkläre ich. »Wir könnten sie auch zu unseren Zwecken nutzen!«
»Inan, sieh dich um!« Mutter schüttelt den Kopf. »Schau dir an, was sie getan haben.«
Sie weist hinter mich, und ich erkenne, dass unzählige Leichen nach draußen getragen werden. Viele Soldaten stehen bei den Heilern Schlange. Der Anblick der vor der Brücke gesammelten Toten ist wie ein Schlag in meine Magengrube.
Jokôye wird auf der Liege eines Sanitars an uns vorbeigetragen, immer noch bewusstlos. Ihr Bein ist gerichtet worden, Blut sickert durch den Verband. Ich schaue ihr mit bebendem Kinn nach.
Wäre sie auch verletzt worden, wenn ich zugelassen hätte, dass Zélie und Amari getötet werden?
»Du dienst nicht den Maji«, erklärt Mutter. »Du dienst nicht mal diesem Land. Deine Pflicht als König ist es, den Thron zu schützen. Den Thron und die Menschen, die sich vor ihm verneigen.«
Ich atme aus. Ich habe keine andere Wahl.
»Zerstört ihn!«, befehle ich, auch wenn es noch so weh tut, die Worte auszusprechen.
Mutter marschiert mit ihren restlichen Tîtánen davon. Ich sacke zusammen. Als sie an den Schlachtopfern vorbeikommt, weiß ich, dass die Entscheidung richtig ist. Unsere Feinde gewinnen an Boden. Wir müssen ihnen ihren Vorteil nehmen. Bloß wie lange können beide Seiten noch so weitermachen, bevor wir Orïsha endgültig zerstört haben?
Nachdem der letzte Soldat vom Tempelgelände entfernt ist, bilden Mutters Tîtánen einen Kreis um sie. Sie streckt die Hände aus und bringt das smaragdgrüne Licht in ihrer Brust zum Leuchten. An ihrem Hals bilden sich dicke Adern. Der Boden beginnt zu beben.
Sie saugt die Kraft aus den Adern der sich vor ihr windenden Tîtánen.
»Mehr!«, schreit sie. Die bebende Erde bringt meine Zähne zum Klappern. Mutters Tîtánen fallen auf die Knie. Das grüne Licht schießt aus Mutters Augen, sie schlägt mit den Fäusten auf die Erde. Sofort reißt sie auf.
Die Kluft weitet sich, setzt sich durch den Dschungel fort, sprengt die Erde auseinander. Je näher der Spalt dem Tempel kommt, desto lauter wird es.
Als die Kluft den geweihten Boden erreicht, ist es, als würden ein Dutzend Bomben gleichzeitig explodieren. Der Tempel fällt in sich zusammen und versinkt in der Erde.
»Bei den Himmeln!«, stößt Ojore aus und hält sich die Hände vors Gesicht. Ich schütze meine Augen, als der Fels explodiert und eine Schuttwolke den Himmel schwärzt. Ein Tîtán schreit auf und fällt schlaff zu Boden. Noch ehe er auftrifft, ist er tot.
Mutters Magie hat ihm alles genommen.
Ich muss diesen Krieg beenden . Der Gedanke hallt durch meinen Kopf. Ich lege die Hand auf die Wunde in meiner Seite. Die Schlachten geraten außer Kontrolle. Wenn wir so weitermachen, wird das gesamte Königreich in Schutt und Asche liegen.
Ich drücke die kleine Bronzemünze und suche nach einer Möglichkeit, dieses Morden endlich zu beenden.
Wenn Zélie mir nicht zuhören will, muss ich mir jemand anderen suchen.