Kapitel 43
Amari
Vier lange Tage vergehen, ehe wir zurück im Sanktuar sind. So hoch über den Wolken ist es friedlich. In den Bergen spürt man nichts von dem Chaos, das das Land in der Ebene erschüttert.
Als wir endlich den ersten Berg erreichen, habe ich das Gefühl, meine Beine seien aus Marmor. Das Sanktuar liegt ruhig da, seine majestätischen Türme zeichnen sich als dunkle Silhouetten vor dem indigoblauen Himmel ab.
»Yemọja, ẹ ṣé o.«
Nâo fällt auf die Knie und küsst dankbar das Wildgras. Fast hätte ich es ihr gleichgetan, doch wenn ich mich jetzt hinsetze, werde ich nicht wieder aufstehen. Es erscheint mir fast wie ein Sakrileg, mit all dem Blut und Dreck an unseren müden Körpern den heiligen Boden zu betreten. Meine Beine wollen nachgeben, doch ich stolpere weiter und lehne mich haltsuchend an die Obsidianwand des Hauptturms.
»Brauchst du Hilfe?«
Ich sehe auf. Tzain lächelt mich an. Mir wird ganz warm ums Herz.
»Hast du auf mich gewartet?«, frage ich. Er zuckt mit den Schultern.
»Du hast mir so gefehlt.«
Ich lehne den Kopf an seine breite Brust, finde Trost in seinen Armen.
»Du hast mir auch gefehlt«, flüstere ich. »Es war seltsam, ohne dich unterwegs zu sein.«
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ohne Tzain an meiner Seite in einen Kampf gegangen bin. Wir waren immer die beiden, die über keinerlei Magie verfügten, und doch vertraue ich ihm mehr als allen anderen. Ich drücke mich an ihn und versuche, die Distanz zu überbrücken, die sich zwischen uns gebildet hat, seit ich Tîtánin bin. Nun, da ich weiß, dass ich ein Cênter bin, will ich nicht, dass sie noch größer wird.
Hinter mir steigt Zélie von Nailah. Tzain sieht ihr ins Gesicht. Sie winkt ihm lächelnd zu, dann spricht sie mit Mâzeli.
»Habt ihr bekommen, was ihr wolltet?«, fragt mich Tzain.
»Auf gewisse Weise.« Ich drehe mich zu den Ältesten um, die die Schriftrollen abladen und in den Versammlungssaal bringen. »Nach dem, was wir in Chândomblé erfahren haben, haben wir eine Chance. Vielleicht habe ich sogar genug Kraft, um mich meiner Mutter zu stellen und die Monarchie zum Aufgeben zu zwingen.«
Tzain entspannt sich, zieht mich enger an seine Brust. »Und dann kannst du den Thron besteigen?«
Ich lächele. »Ja, dann kann ich den Thron besteigen.«
In seiner festen Umarmung lösen sich alle Gedanken an Krieg, Cênter und den Thron auf. Ich atme seinen Sandelholzduft ein und merke, wie sehr ich Tzain begehre. Wie viel mehr ich von ihm will.
»Was ist?« Er spürt die Veränderung und löst sich von mir. Ich schlinge die Arme um seinen Hals.
»Was muss ich tun, damit du mich zu einer Wanne trägst?«
Demonstrativ spitzt er die Lippen und kratzt sich am Kinn. Dann hebt er mich ohne Vorwarnung hoch und trägt mich über die Steinbrücke. Ich muss lachen.
»So einfach ist das?«
»Na, klar!« Tzain grinst. »Mein Leben für meine Königin.«
Auch wenn er nur scherzt, wird mir bei seinen Worten anders. Er ist der Einzige, der mich so ansieht, als würde ich diesen Titel verdienen. Der einzige Mensch, der glaubt, dass ich fähig bin zu regieren.
Ich streiche über seine Bartstoppeln. Mein Blick fällt auf seine Lippen. Ich stelle mir vor, auf welche Weise ich ein paar ruhige Stunden mit ihm verbringen würde. Wie sich sein Kuss anfühlen würde.
»Kann ich Ihnen noch irgendwie zu Diensten sein, meine Königin?«
Er beugt sich vor, mein Lächeln wird breiter. Heftig pocht mir das Herz in der Brust, ich lege die Hände in seinen Nacken.
Unsere Lippen berühren sich. Ein Schauder durchläuft meinen gesamten Körper. Ich winde mich, presse mich an ihn, und ein Kribbeln entsteht zwischen meinen Beinen.
»Wo wollt ihr denn hin?«
Schnell lösen wir uns voneinander. Jahi guckt uns so böse an, dass ich rot anlaufe. Ich bitte Tzain, mich abzusetzen.
»Wir haben zu arbeiten.« Jahi weist auf die Ältesten, die sich in Richtung Versammlungsraum begeben.
Ich stöhne. »Können wir nicht erst ein bisschen schlafen?«
»Beschwer dich nicht!«, sagt er. »Du hast diese Aufgabe gewollt.«
Ich lasse die Schultern hängen. Dann drehe ich mich zu Tzain um und lege die Arme um ihn. Er atmet tief aus und fährt mir mit den Händen über den Rücken.
»Ein andermal?«, sage ich.
»Tu, was du tun musst.« Wieder treffen sich unsere Lippen,
und ich versinke in der Sicherheit seines Kusses. Er umfasst meine Taille fester, wieder laufen mir Schauder über den Rücken.
Am liebsten würde ich ihn nie wieder loslassen, doch es geht nicht anders. Orïsha wartet auf niemanden. Nicht mal auf ihn.
Jahi sieht mir nach, doch ich ignoriere seinen Blick.
»Weck Mama Agba!«, befehle ich. »Wenn irgendjemand Antworten hat, dann sie.«
Niemand gibt einen Laut von sich, als Mama Agba die goldenen Schriftzeichen auf Zélies Haut untersucht. Mir brennen die Arme vom Hochhalten der Decke, die Zélies Narben und ihren nackten Rücken vor den Blicken der anderen verbirgt. Mama Agba hält inne und übersetzt die Sênbaría auf einem braunen Pergament. Das Kratzen ihrer Schilfgrasfeder wird von den Bleiglasfenstern des Versammlungssaals zurückgeworfen. Eine ganze Stunde vergeht, ehe Mama Agba die Feder beiseitelegt und bereit ist, uns mitzuteilen, was sie herausgefunden hat.
»Solche Schriftzeichen und Symbole habe ich nicht mehr gesehen, seit ich bei den Sêntaros studiert habe«, sagt sie. »Die Tätowierungen sind Zeichen des Mondsteins, ein Verwandter des Sonnensteins, den ihr aus Ibeji mitgebracht habt.«
»Aber der Sonnenstein wurde beim Ritual zerstört.« Zélie legt den Kopf schräg. »Er zerbrach in meinen Händen, nachdem ich mit seiner Hilfe die Magie zurückgeholt hatte.«
»Anders als seinen Bruder kann man den Mondstein nicht festhalten«, erklärt Mama Agba. »Er stellt eine Kraft dar, die
uns von den Göttern gewährt wird. Wahrscheinlich haben sie sie dir bei der Sonnenwende geschenkt.«
Mama Agba wartet, bis Zélie in einen ärmellosen Kaftan geschlüpft ist, dessen violetter Stoff wie Rotwein schimmert. Zélie setzt sich vor die Bronzestatue mit den Amethyst-Augen.
»Der Mondstein entfaltet seine Magie auf Befehl«, fährt Mama Agba fort. »Doch nur wenige können seine Kraft aktivieren.« Sie lässt ihren alten Finger auf Zélies Brustbein ruhen, bevor sie die heiligen Worte rezitiert: »Ẹ tọnná agbára yin.«
Sofort entflammen die Tätowierungen auf Zélies Haut. Zischend atmet sie ein. Die zarten Linien glühen golden, so stark, dass sie durch ihren weinfarbenen Kaftan leuchten. Auch wenn sie hier nicht so hell sind wie in der Bibliothek von Chândomblé, verschlägt es mir bei dem Anblick die Sprache. Zélie sieht aus wie eine Göttin, die uns ihr goldenes Licht schenkt.
»Der Mondstein besitzt die Fähigkeit, die Lebenskraft in uns allen zu binden«, erklärt Mama Agba. »Wenn dir diese Fähigkeit bei dem heiligen Ritual geschenkt wurde, würde das den Grund für die Kräfte von Amari und Nehanda erklären. Es könnte sein, dass man mit Hilfe des Mondsteins noch mehr Cênter wie sie erwecken kann.«
»Moment mal – wie bitte?« Ich beuge mich mit offenem Mund vor. Mehr Cênter würden uns mehr Macht verschaffen. Dadurch wären wir bei einer Verhandlung um das Ende des Kriegs in einer besseren Position. »Wären die alle so stark wie meine Mutter?«
»Möglicherweise zeigt sich die Kraft nicht bei allen auf dieselbe Weise, aber jeder Maji, der in sich so viel Ashê trägt, wäre in der Lage, große Taten zu vollbringen.« Mama Agba nickt. »Ein Wellenhüter könnte mit einer bloßen Handbewegung einen Tsunami auslösen. Eine Seherin wäre vielleicht in der Lage, in
die Vergangenheit wie in die Zukunft zu blicken. Aber große Macht zu erlangen fordert große Opfer.« Mama Agba hält inne und sieht mich an. »Du und deine Mutter, ihr seid jetzt Cênter. Musstet ihr dafür jemanden opfern, den ihr liebt?«
Mein Hals wird trocken, ich wende den Blick ab. Auf meinem Rücken brennt die Erinnerung. »Irgendwie schon«, sage ich. »Ich habe im Tempel meinen Vater getötet.«
Mama Agba atmet tief durch und spitzt die Lippen. Sie nimmt die Hand von Zélies Brust, und sofort erstirbt das goldene Licht der Mondsteinsymbole auf Zélies Körper.
»Wenn ihr einen neuen Cênter schaffen wollt, müsst ihr bereit sein, so ein Opfer zu bringen«, sagt Mama Agba. »Nur durch einen Verlust in dieser Größenordnung kann eine Macht wie die entstehen, durch die bei der Sonnenwende Cênter geschaffen wurden.«
»Und wenn ich noch eine andere Möglichkeit finden würde?«, fragt Zélie. »Wenn ich unsere Lebenskräfte mit dem Mondstein binden könnte, ohne jemanden zu töten, den wir lieben?«
»Selbst wenn dir das gelänge, würde die Verbindung nicht halten.« Mama Agba schüttelt den Kopf. »Eine so große Kraft würde jeden zerstören, der mit ihr in Berührung kommt, und wenn man sich an die Lebenskraft eines anderen bindet, bindet man sich auch an dessen Tod.« Mama Agbas Blick bleibt an Zélie hängen. Sie nimmt ihren Stab und steht auf. »Jetzt seid ihr die Ältesten. Es ist nicht mehr meine Aufgabe, euch zu sagen, was ihr zu tun habt. Aber ihr solltet wissen, dass es Waffen gibt, die so groß sind, dass man sie besser nicht benutzt.«
Als Mama Agba den Versammlungssaal verlässt, legt sich schwere Stille über uns. Alle am Tisch scheinen über ihre Worte nachzudenken; über den Preis, ein Cênter zu werden.
Ich jedoch erkenne in ihrer Erklärung unsere Rettung,
unseren Vorteil, unseren Frieden. Wir haben die Macht, diesen Krieg zu gewinnen, ohne eine weitere Seele zu verlieren. Wir können das Orïsha schaffen, das wir uns wünschen.
»Wir sind nach Chândomblé gegangen, um Macht über Nehanda zu bekommen, und das ist uns gelungen«, sage ich zu den versammelten Maji. »Wir könnten eine ganze Armee von Cêntern schaffen, die so stark wie meine Mutter sind. Angesichts einer solchen Bedrohung hätte die Monarchie gar keine andere Wahl, als sich uns zu ergeben.« Ich erhebe mich von meinem Platz und stelle mir das Gesicht meines Bruders vor, wenn ich ihm schildere, welche Macht uns zur Verfügung steht. »Gebt mir die Erlaubnis, nach Lagos zu gehen und Inan zu treffen. Ich weiß, dass ich einen Frieden zu unseren Bedingungen aushandeln kann.«
»Zu deinen Bedingungen«, spottet Kenyon. »Nicht zu unseren. Unsere Zukunft ist nicht sicher, solange kein Maji auf dem Thron sitzt. Und damit wird niemals jemand im Palast einverstanden sein.« Er steht auf und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Mit Zélies Fähigkeiten haben wir alle Macht, die wir brauchen. Der Zeitpunkt ist gekommen, sie zu benutzen und Lagos ein für alle Mal zu zerstören.«
»Du Idiot!« Nâo schnaubt verächtlich. »Dafür müssten wir jemanden opfern, den wir lieben.«
»Egal, wie wir es angehen, es werden Menschen sterben«, beharrt Kenyon. »So tun sie es wenigstens nicht umsonst.«
»Ich weigere mich, Maji-Blut zu vergießen.« Kâmarūs Stimme bebt vor unterdrücktem Zorn. »Wenn wir diesen Krieg nicht als Maji gewinnen können, haben wir es auch nicht verdient.«
Ein Kopf nach dem anderen dreht sich zu Zélie um. Sie hat das letzte Wort. Ich sehe ihr in die Augen, aber sie weicht meinem Blick aus.
»Ich bitte euch nur um die Chance, herauszufinden, ob Frieden nicht doch eine Option ist.« Ich erhebe mich und knie mich vor Zélie. »Du hast gehört, dass Inan seinen Soldaten befohlen hat, uns nicht anzugreifen. Um der Himmel willen, er hat sein Leben
riskiert, damit Mâzeli und du fliehen konntet!«
Ich greife nach ihrer Hand. Sie will sie mir entziehen, doch ich gebe nicht nach.
»Du bedeutest ihm noch immer etwas.« Ich senke die Stimme. »Und ich weiß, dass auch er dir etwas bedeutet …«
»Nein.« Sie entreißt mir ihre Hand und ballt sie zur Faust. »Wir können ihm nicht trauen. Wir können niemandem trauen.«
»Zélie …«
»Als ich mich dieser Sache angeschlossen habe«, unterbricht sie mich, »hatte ich nur ein Ziel: Ich wollte Inan töten.«
»Er ist mein Bruder.« Ich kneife die Augen zusammen. »Du weißt, dass ich dem niemals zustimmen könnte.«
»Und das hier ist meine Familie.« Zélie weist auf die Maji am Tisch. »Sie werden erst in Sicherheit sein, wenn dein Bruder tot ist.«
Ihre Worte verletzen mich stärker, als sie wissen kann. Es ist erst wenige Monde her, dass sie meine Hand nahm und behauptete, ich sei nun ihre Schwester. Wir seien blutsverwandt.
»Wenn du sein Leben nicht schonst, werde ich nicht für dich kämpfen.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Du brauchst mich auf deiner Seite. Ich bin die einzige Cênter, die du hast.«
»Wir schaffen uns selbst einen«, faucht Na’imah zurück.
»Nein, das können wir nicht.« Zélie schüttelt den Kopf. »Mama Agba hat recht. Es ist zu gefährlich. Wahrscheinlich sterben wir dabei eher, als dass wir diese Macht bekommen, und dafür jemanden zu opfern, den wir lieben, ist es nicht wert.«
Sie starrt mich an, und ich spüre, dass etwas zwischen uns zerbricht. Die Zeit des Versteckspielens ist vorbei.
Uns eint nicht mehr der Wunsch, den Krieg zu gewinnen.
»Wir brauchen Amari nicht«, sagt Zélie zu den Ältesten. »Wir brauchen noch nicht mal Cênter. Wir sind nach Chândomblé gegangen, um die Schriftrollen zu holen, und die haben wir jetzt.« Sie weist auf die Pergamente mit den Beschwörungsformeln, die sich an der hinteren Wand stapeln. »Wir werden die Maji ausbilden, bis sie stark genug sind, es mit Nehanda und ihren Tîtánen aufzunehmen. Und wenn es so weit ist, werden wir diesen Krieg auf die einzige Weise beenden, den die Monarchie versteht: So, dass unsere Vorfahren stolz auf uns wären.«
»Genauso sehe ich das auch!« Applaudierend blickt Nâo in die Runde. »Bringen wir es auf unsere Art zu Ende, angeführt von der Kriegerin des Todes!«
Als die anderen Ältesten ihr Zuspruch leisten, mitgerissen von dem in Aussicht gestellten Kampf, fällt mir nichts mehr ein. Ich sehe Zélie an. Sie spürt die Hitze meines Blicks, weicht mir aber aus.
Mit hängenden Schultern verlasse ich den Saal, kann den Jubel dort nicht länger ertragen. Ich fliehe förmlich aus dem Turm und bleibe erst in der kühlen Nachtluft wieder stehen.
Orïsha wartet auf niemanden
. Vaters Flüstern kitzelt mein Ohr und erinnert mich daran, was ich tun muss. Ich kann nicht weiter darauf warten, dass Zélie und die Iyika Vernunft annehmen. So oder so kämpfen sie nur für die Maji. Ich muss für das ganze Königreich eintreten.
»Orïsha wartet auf niemanden«, wispere ich vor mich hin und balle die Fäuste.
Wenn die Ältesten meinen Plan nicht unterstützen, diesen Krieg zu gewinnen, muss ich es eben allein tun.