Kapitel 44
Zélie
Helle Glockentöne dringen an mein Ohr und reißen mich aus dem Schlaf. Obwohl ich erst seit kurzer Zeit in den Bergen lebe, hinter denen sich das Sanktuar versteckt, weiß ich schon, was die einzelnen Töne bedeuten. Tiefe Glocken kündigen die Ankunft neuer Maji an. Eine höhere Melodie erklingt zu den Mahlzeiten. Dieser schrille Ton jedoch ist neu. Er ruft uns zum Training.
Ich hebe den Kopf vom Ankara-Muster meines Kissens. Über meinem Balkon sehe ich einen hellen Streifen. Stöhnend ziehe ich mir die Decke wieder über den Kopf. Nur Mama Agba kann auf die Idee verfallen, vor Sonnenaufgang aufzustehen.
Die Schuldgefühle, die mich seit Chândomblé plagen, drücken wie ein Mühlstein auf meinen Magen. Wie soll ich meinen Seelenfängern gegenübertreten, wenn ich weiß, dass ich nicht in der Lage bin, meinen Clan zu führen?
Auch wenn es schon einige Tage her ist, spiele ich in Gedanken immer wieder durch, wie Mâzeli die Treppe im Tempel herunterkam. Ich hatte meinem Adjutanten versprochen, auf ihn aufzupassen. Notfalls mein Leben für ihn zu geben. Doch kaum sah ich Inan, vergaß ich diesen Schwur, um mich an ihm zu rächen. In der Situation war ich nur für einen Seelenfänger verantwortlich. Was wäre gewesen, wenn ich den gesamten Clan angeführt hätte?
Es gibt ja nur sehr wenige Seelenfänger; Oya schenkt diese Gabe nicht vielen. Wenn wir diesen Krieg gewinnen und wieder das aufbauen wollen, was die Monarchie zerstört hat, können wir uns nicht leisten, viele Seelenfänger zu verlieren. Sie brauchen eine Älteste, auf die sie sich verlassen können.
Als es leise an der Tür klopft, hebe ich den Kopf. Die violette Tür öffnet sich einen Spaltbreit. Halb rechne ich damit, Mâzelis große Ohren zu erblicken, doch stattdessen erspähe ich etwas Silbernes.
»Mama Agba?«, frage ich lächelnd.
Ich sehe das silberne Gewand auf ihrer dunklen Haut. Der gekräuselte Stoff weht hinter ihr. Es ist, als würden die Falten der Seide einen Lufthauch mitbringen.
Vor der Blutnacht trugen die Clanältesten solche Umhänge, um ihren besonderen Status hervorzuheben. Dieses Gewand war ebenso etwas Besonderes wie die Kopfbedeckung der Ältesten.
»E kàárò ìyáawa.«
Ich schleppe mich aus dem Bett und knie mich mit schmerzenden Oberschenkeln vor Mama Agba. Ich verbeuge mich tief vor ihr und denke, wie oft ich das schon hätte tun sollen. Wie oft wir uns alle vor ihr hätten verneigen sollen.
Als ehemalige Älteste müsste Mama Agba viel mehr verehrt werden. Sie müsste von allen gefeiert werden. Stattdessen hat sie sich jahrelang versteckt, nur Kaftane in gedeckten Farben getragen und wunderschöne Roben für Adelige genäht, bis ihre Finger bluteten.
»Steh auf, mein Kind.« Sie schnalzt mit der Zunge, doch in ihren mahagonibraunen Augen sehe ich ihre Rührung. Sie zieht mich in eine warme Umarmung, und der Duft von Nelken und Sújà-
Gewürzen in ihrer Kleidung verrät mir, das sie schon Stunden in der Küche verbracht hat.
»Ich wollte dich vor deinem ersten Training noch mal sprechen.« Sie greift in ihre Tasche und holt ein eindrucksvolles Metallcollier hervor. Das stattliche Stück ist so groß, dass es sicherlich bis zu meinem Schlüsselbein reicht.
»Das ist wunderschön!«, stoße ich aus und betaste die feingliedrigen Elemente. Mehrere dreieckige Plättchen sind zu einer Art Matte zusammengenäht, eine einzigartige Mischung von Mama Agbas schneiderischen Fähigkeiten und Tahirs Metallbearbeitungskünsten.
»Zuerst wollte ich dir eine Kopfbedeckung machen, aber da dir so viele Kämpfe bevorstehen, kam mir das hier passender vor.« Sie macht mir ein Zeichen, dass ich mich umdrehen soll, doch ich bleibe stehen.
»Gefällt es dir nicht?«, fragt sie.
Ich schüttele den Kopf und gleite mit dem Fuß über die Mosaikfliesen auf dem Boden.
»Das ist es nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich es nicht verdient habe. Ich glaube, ich bin nicht dazu bestimmt, den Ikú-Clan zu führen.«
»Wegen dem, was im Tempel passiert ist?« Mama Agba legt die Hand auf meine Schulter und zieht mich zu sich heran. »Eine Älteste zu sein, bedeutet nicht, dass man frei von Fehlern ist. Es heißt nur, dass man trotzdem nicht aufhört zu kämpfen.«
»Hast du gehört, was mit Mâzeli passiert ist?«, frage ich.
»Mein Kind, in diesen Mauern spricht sich alles schneller herum, als eine Gepardesse rennen kann. Ich weiß viel mehr über euch, als ich wissen will.« Sie schüttelt den Kopf und dreht mich zum Spiegel um. »Kenyon hat es offenbar auf Na’imah abgesehen, aber die liebäugelt mit Dakarai.«
»Der wiederum Imani ganz besonders mag.«
»Ich weiß.« Mama Agba seufzt. »Aber die Zähmerin wird ihn bei lebendigem Leib verspeisen. Was für ein Durcheinander!«
Ich muss lachen.
Mama Agba nimmt das Collier. Hoffentlich hat sie keine Gerüchte über Inan gehört. Und über Roën.
Bei dem Gedanken an den Söldner kribbelt es in meiner Brust, was mir überhaupt nicht gefällt. Wenn nicht gerade ein Kampf ansteht, muss ich immerzu an sein schiefes Grinsen und seine schwieligen Hände denken. Manchmal merke ich, dass ich unbewusst auf den Eingang zum Sanktuar starre und darauf warte, dass Roën mit irgendeinem unausgegorenen Plan zurück in mein Leben schlendert.
Doch selbst ihn vergesse ich, als Mama Agba mir das Collier um den Hals legt. Ich betaste die Lücken zwischen den kleinen Dreiecken, und ein unerwarteter Stolz erfüllt mich.
Ich muss daran denken, wie ich nach dem Training in ihrer Schilfhütte saß, einen Tee trank und sie mir als Belohnung meinen Stab überreichte. Auf gewisse Weise habe ich jetzt dasselbe Gefühl. Nur dass sich alles in unserer Welt verändert hat.
»Zélie, wenn du nicht zur Ältesten bestimmt wärst, hättest du auch nicht aufsteigen können«, sagt Mama Agba. »Oya hat dir eine Ìsípayá geschenkt, um dir zu zeigen, dass du ihrer würdig bist. Wenn sie nicht der Meinung wäre, dass du ihren Clan am besten führen kannst, hättest du keine Vision gehabt.«
Ich denke darüber nach, über das, was Oya mir gezeigt hat. Wenn ich die Augen schließe, kann ich immer noch das Band aus violettem Licht sehen, das wie ein Faden aus meiner Brust kam und sich mit einem goldenen Band verflocht. Die Kraft, die dabei entstand, fühlte sich genauso an wie die von Amari.
Im Tempel war ich überzeugt, dass es das Zeichen eines
Cênters war. Aber Amaris Fäden waren sämtlich kobaltblau. Bei Nehanda wären sie mit Sicherheit smaragdgrün. Wo sind die violetten? Die goldenen? Die orangefarbenen?
»Mama Agba?« Ich drehe mich zu ihr um. Die Frage, die mir auf der Zunge liegt, kommt mir lächerlich vor. Doch ich weiß nicht, wie ich mir die Lichtfarben erklären soll, die ich gesehen habe. »Ist es möglich, die Magie mehrerer Menschen zu vereinen?«
»Nun, es liegt ja in der Natur eines Cênters …«
»Nein, nicht so«, unterbreche ich sie. »Ich meine, ist es möglich, die Magie von verschiedenen Stämmen zu vereinen? Von Maji, die nicht zum selben Clan gehören?«
Mama Agba reißt die Augen auf und macht einen Schritt nach hinten. Sie runzelt die Stirn. »Warum fragst du?«
»Bei meiner Ìsípayá habe ich verschiedene Farben gesehen. Violett hat sich mit Gold vermischt. Es war ein Regenbogen von Farben«, erzähle ich. »Ein Regenbogen der Macht.«
»Aha.« Sie schürzt die Lippen. »Es ist schon schwer genug, dieselbe Magie von mehreren Personen zusammenzuführen, aber verschiedene Arten
von Magie … Meines Wissens ist das erst einmal passiert. Es ist der Grund dafür, warum es in Orïsha Majazit gibt.«
Mit offenem Mund höre ich Mama Agbas Geschichte vom Erdsänger und der Siecherin, die ihre Gaben vereinten, so dass eine unglaublich mächtige, explosive Verbindung entstand, die die Majazitvorkommen im Land erschufen.
»Bei der Prozedur starben die beiden Maji«, erklärt Mama Agba. »Aber die Folgen ihrer Verbindung spüren wir bis heute. Die Monarchie hat die von ihnen geschaffenen Vorkommen über ein Jahrhundert lang abgebaut.«
»Kann das wieder passieren?«, frage ich.
»Theoretisch schon.« Mama Agba schüttelt den Kopf. »Wenn eine solche Verbindung von Dauer wäre, wenn ihre Urheber sie überlebten, dann lässt sich nicht sagen, was geschehen könnte. Ein Erdsänger und ein Flammentänzer könnten gemeinsam Vulkane schaffen. Ein Seelenfänger und ein Heiler könnten vielleicht sogar Tote zum Leben erwecken.«
Ich nicke und male mir aus, welches Potenzial sich in diesen Bündnissen verbirgt. Eine solche Macht ist schwer zu begreifen. Sie fühlt sich noch mächtiger an als die der Götter.
»Aber, Zélie, um so etwas zu tun …«
»Ich weiß«, versichere ich ihr. »Das ist ja auch nicht der Plan.«
Von unten steigt leises Geplauder hoch. Die Maji kommen aus ihren Schlafräumen. Mama Agba und ich stellen uns auf den Balkon. Kleine Grüppchen gehen über die Steinbrücke, unter der sich die natürliche Badestelle befindet, zu ihren Tempeln auf dem dritten Hügel.
Mâzeli führt Bimpe und Mári hinüber. Mit seinen großen Ohren ist er leicht zu erkennen. Lächelnd schaut Mama Agba auf die drei hinab und streicht mir über den Arm.
»Kannst du dich noch an deine Ìsípayá erinnern?«, will ich wissen. Sie atmet aus, und ein zartes Lächeln legt sich auf ihr Gesicht, so hell, dass es den Raum erleuchtet.
»Ich habe ins Jenseits geschaut«, haucht sie. »Ich habe auf einem Berg gekniet. Die Himmelsmutter hat mich mit offenen Armen in Empfang genommen.«
»Das hört sich wunderschön an«, flüstere ich.
»War es auch.« Mama Agba nickt. »Es ist schon Jahrzehnte her, aber an diese Wärme kann ich mich bis heute genau erinnern. An diese Liebe.«
Mama Agba rückt mein Collier zurecht, nimmt mir die
Kopfbedeckung ab, um mir die Locken zu verwuscheln, und führt mich dann zur Tür.
»Du bist diejenige, die deine Seelenfänger brauchen, Älteste Zélie. Der einzige Mensch, dem du das noch beweisen musst, bist du selbst.«
Als ich mich endlich zum dritten Berg begebe, sind die meisten Clans schon schwer beschäftigt. Mit Ausnahme der Seelenfänger verfügt jeder Clan über mindestens ein Dutzend kampfbereite Maji.
Sie sammeln sich zum Üben vor dem Tempel ihres Clans, die Divînés sehen zu. Als ich auf dem Weg zum Turm der Seelenfänger, ganz oben auf dem Berg, an ihnen vorbeigehe, löst sich das bisschen Selbstbewusstsein, das Mama Agba mir eingeflößt hat, auch schon wieder auf.
»Nein, nicht so«, korrigiert Na’imah einen Maji und schüttelt so heftig den Kopf, dass ein Regen oranger Blütenblätter aus ihren Locken rieselt. Libellen umkreisen ihren Kopf. Sie legt die Hände eines Maji auf die Schläfen ihrer Gepardesse. »Du musst die Verbindung erst fühlen, bevor du mit der Beschwörung beginnst.«
Der Zähmer nickt und schließt die Augen, das Gesicht vor Konzentration angespannt. Kleine Äffchen huschen über seinen Rücken, baumeln an seinem Hals und seinen Ohren. Er singt: »Èdá inú egàn, yá mi ní ojú rẹ …«
Ein zartes rosafarbenes Licht leuchtet hinter den Lidern des Zähmers auf und wird immer stärker. Als der Junge die Augen öffnet, schlägt auch die Gepardesse die Augen auf. Die schmalen Schlitze strahlen ebenfalls rosa.
Mit offenem Mund sieht der Zähmer die Welt durch die Augen der Gepardesse. Es ist, als würden beider Gedanken von derselben Kraft gelenkt. Sie blinzeln sogar gleichzeitig.
Auf dem Felsvorsprung über ihnen führt Folake den Lichtwebern etwas vor. Mit zurückgebundenen weißen Rastalocken reckt sie ihre schlanken Finger und zieht etwas heran, das ich nicht sehen kann.
»Es geht darum, das Licht so zu fühlen, als könnte man es in der Hand halten. Wenn man es erst einmal spürt, ist die Beschwörung ein Klacks. Ìbòrí òkùnkùn!
«
Folake klatscht in die Hände, und sofort legt sich Dunkelheit über den Tempel ihres Clans. Die Schwärze ist düsterer als alles, was ich je gesehen habe. Als hätte jemand in einer mondlosen Nacht alle Sterne vom Himmel gepflückt.
Die Verdunkelung dauert nur kurz, doch als das Licht zurückkehrt, machen alle Maji große Augen.
Das war unglaublich.
Ich schüttele den Kopf. Hoffentlich bin ich wenigstens halb so gut.
»Seelenfänger, aufgepasst!« Mâzelis hohe Stimme schallt von den Steinmauern unseres Tempels herüber. Er steht auf dem Rasen und singt Bimpe und Mári vor: »Ẹmí àwọn tí ó ti sùn …«
Sie wiederholen: »Ẹmí àwọn tí ó ti sùn!«
Er skandiert wieder: »Mo ké pè yin ní òní …«
Die Mädchen tun es ihm nach. »Mo ké pè yin ní òní!«
Gemeinsam beschwören meine Seelenfänger Geister herauf. Vor Stolz schwillt meine Brust. Alle Schemen haben unterschiedliche Formen, doch sie erheben sich gemeinsam, wachsen aus dem Boden wie ein Beet voller Lilien.
»Immer schön ruhig!«, ruft Mâzeli. »Die Größe beibehalten!«
Máris Geist löst sich auf, während der von Bimpe immer
größer wird. Die Art und Weise, wie die beiden zusammenarbeiten, erinnert mich an die Seelenfänger, die ich vor der Blutnacht kannte.
»Jagunjagun!«
Mâzelis Gesicht leuchtet auf, als er mich an der Tempelwand erblickt. Er fällt auf die Knie und verneigt sich, als sei ich die Königin.
»Was lernen wir heute?«, fragt er. »Seelen trennen? Schemen verbinden? Wie wäre es mit … au
!« Mári hat ihn in den Arm geknufft.
»Halt den Mund, damit sie antworten kann«, zischt sie ihm zu.
»Mári, ich bin der Adjutant! Du kannst mich nicht boxen!«
Bimpe kichert, und ich grinse in Erinnerung an das Gelächter, das immer durch Mama Agbas Ahéré schallte. Auch wenn uns außerhalb der Schilfwände ihrer Hütte jede Menge Probleme erwarteten, durften wir bei ihr unseren Spaß haben.
Während ich meinen Seelenfängern zuhöre, wird mir klar, dass die Übungen nicht notwendigerweise etwas mit dem Krieg zu tun haben müssen. Ausnahmsweise können wir heute unserer Magie zu Ehren Beschwörungen lernen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. So können wir die Rückkehr der Seelenfänger feiern.
»Heute werden wir eine sehr alte, mächtige Technik erlernen.« Ich reiche Mâzeli die von mir ausgewählte Schriftrolle.
»ãjìjí ikú?«
Mâzeli hebt die Augenbrauen. »Schatten des Todes?«
»Schemen könnt ihr ja bereits heraufbeschwören.« Ich nicke bekräftigend. »Die neue Technik wird euch helfen, eure Fähigkeit weiter auszubauen.«
Ich trete vor und stelle mir einen Schemen vor, erwecke ihn mit einer bloßen Handbewegung zum Leben. Als er sich aus
dem Boden erhebt, denke ich daran, wie ich allein in der Wüste verzweifelt versuchte, einen Geist heraufzubeschwören. Vor einigen Monden konnte ich kein einziges Sandkorn bewegen.
»Todesschatten zu schaffen ist dasselbe, wie Schemen zu rufen. Nur dass man ihn nicht in das nächstbeste Element leitet, sondern ihn in seiner Urform verändert. Todesschatten können jede Gestalt annehmen, doch je komplizierter die Form, desto schwerer die Aufgabe.«
»Deine Schatten sollen so mächtig sein, dass sie ganze Armeen vernichten können.« Máris Worte lassen die anderen aufhorchen, doch bei der Erinnerung an Babas Geist tut sich ein Abgrund in mir auf. Als er durch meine Adern rauschte, waren die Schatten, die aus mir herausplatzten, übermächtig. Sie waren der Inbegriff des Todes.
»Was ich bei dem Ritual getan habe, wurde durch die Verbindung mit meinem Vater möglich«, erkläre ich. »Meine Magie wurde durch den heiligen Boden und die hundertjährige Sonnenwende verstärkt. Es wäre schwer, diese Art von Kraft wieder aufzubringen.«
»Kannst du es denn versuchen?«, fragt Mâzeli. Die anderen wünschen es sich ebenfalls. Alle drei sehen mich begierig an. Ich darf sie nicht enttäuschen.
Ich wappne mich gegen die Erinnerungen an Baba, die bei dieser Beschwörung hochkommen werden. Während ich mich auf den Spruch vorbereite, geht die Sonne über unserem Tempel auf. Strahlen und Schatten wandern über den Gipfel, und ich muss an das letzte Mal denken, als Mama diese Beschwörungsformel benutzte. Damals lebten wir noch in Ibadan.
Tzain wettete mit mir, ich würde mich nicht trauen, auf eine Klippe zu steigen. Ich tat es und sprang hinunter. Mama schrie. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn sie keine Todesschatten
heraufbeschworen hätte. Sie fingen mich auf und ließen mich in einen von Ibadans eiskalten Seen sinken.
Mit einem Lächeln gehe ich zum Eingang unseres Tempels. Direkt davor ist ein Felsvorsprung, der sich perfekt eignet. Er ragt über den Teich am Fuß des Wasserfalls.
»Aufgepasst!« Ich laufe los. Die anderen rufen mir hinterher. Ich recke das Gesicht dem peitschenden Wind entgegen.
Eine Freiheit, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gefühlt habe, erfasst mich und treibt mich voran. Wie eine Welle wächst die Magie in mir und will sich brechen. Kraftvoll drücke ich mich vom Felsvorsprung ab und springe.
»Èmí òkú, gba ààyé nínú mi …«
Mein Spruch wird mir vom Wind von den Lippen gerissen. Ich breite die Arme aus. Einen Moment lang schwebe ich.
»Jáde nínú àwon òjìjí re …«
Als das Wasser näher kommt, fühle ich mich wieder, als sei ich sechs Jahre alt. Als würden Baba und Mama noch leben.
Als müsste niemand sterben, den ich liebe.
»Yí padà láti owó mi!«
Die letzten Worte der Beschwörung sorgen dafür, dass sich die Luft um mich herum kräuselt. Geister von Toten platzen aus meinem Rücken. Die violette Aura der Schatten wirkt fast schwarz.
Sie fliegen wie Funken durch die Luft und streben aufeinander zu, um Gestalt anzunehmen. Kalte Geister umfangen meinen Rücken, und meine Arme und bilden einen Gleitschirm.
Tief in mir steigt ein Lachen auf. Einen Augenblick lang schwebe ich über meinen Schmerzen. Ich spüre die Freiheit, nach der ich mich so sehne.
Ich fliege, bis ich mit einem Ruck am Ufer des Wasserfalls abgesetzt werde. Die Schatten lösen sich zu Rauchfahnen auf.
Als ich mich umdrehe, jubeln mir die Seelenfänger auf dem Felsvorsprung zu, zusammen mit anderen Maji, die meine Demonstration verfolgt haben.
»So …« Ich deute auf Mâzeli. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob du fliegen kannst oder im Wasser landest!«
Mit langem Gesicht schaut er zu mir hinunter. »Ich kann nicht schwimmen!«
Ich grinse schelmisch und zucke mit den Schultern.
»Dann hat der größte Seelenfänger aller Zeiten ja noch mehr Grund, es gleich beim ersten Versuch zu schaffen.«