Kapitel 47
Amari
»Bruder?«
Ich möchte etwas sagen, bekomme aber kein Wort heraus. So lange habe ich auf diesen Moment hingearbeitet, aber ich habe mir nicht überlegt, was passiert, wenn es so weit ist.
Mit den Bartstoppeln auf den Wangen und den dunklen Ringen unter den Augen sieht mein Bruder viel älter aus als neunzehn. Ohne die weiße Strähne in seinen wilden Locken hätte er vielleicht sogar Ähnlichkeit mit Vater.
»Deine Traumwelt ist anders.« Er blinzelt mich an, und ein angedeutetes Lächeln legt sich auf sein müdes Gesicht. Als er die zimtige Luft schmeckt, fallen ihm die Augen zu.
Er zwingt mich, die Welt um uns herum wahrzunehmen, den von mir erschaffenen magischen Ort. Ein Meer tiefblauer Blumen zieht sich bis in die Ferne. Über uns funkelt ein Himmel voller Sterne.
Auch wenn ich noch nie einen Fuß an diesen Ort gesetzt habe, fühlt es sich irgendwie an, als würde ich zu mir selbst zurückkehren. In dieser Welt ist die Luft süß. Obwohl kein Mond zu sehen ist, ist es hell.
Inan bückt sich und riecht an einer Blume. Dann sieht er mich ernst an.
»Hast du mich hergeholt, weil du mich umbringen willst? Oder willst du mit mir reden?«
Er tut so, als sei es ein Witz, aber ich sehe, wie seine Finger zittern. Er rechnet immer damit, verletzt zu werden. Er hat dieselben Narben wie die, mit denen ich zu leben versuche.
Mit Tränen in den Augen mache ich einen Schritt auf ihn zu. Als er die Arme ausbreitet, werfe ich mich hinein. Wie sehr er mir gefehlt hat! Wie sehr ich mir gewünscht habe, ihn zu umarmen!
Alles, was zwischen uns geschehen ist, blitzt vor meinem inneren Auge auf. Ich sehe die Verletzungen, die wir davongetragen haben. Jeden Menschen, den wir verloren haben: Binta. Admiralin Kaea. Vater. Aber am schlimmsten: uns gegenseitig.
Als ich den Kopf an seine Brust lege, weiß ich nicht, wer heftiger weint. Ich oder er.
Irgendwann versiegen unsere Tränen. Wir wissen nicht, wie lange es dauert. Selbst Schmerzen sind in dieser magischen Welt anders. Das Weinen tut nicht weh.
Wir setzen uns auf einen Hügel und zupfen an den Blumen zu unseren Füßen. Zwischen uns geschieht unglaublich viel, ohne dass wir es in Worte fassen müssen.
»Sind in deiner Welt auch Blumen?«, frage ich. Inan schüttelt den Kopf.
»Nur Schilf.« Er hält sich eine Lilie vor die Nase und reißt die Blütenblätter ab. »Zélie hat es irgendwie geschafft, einen Wald und Wasserfälle zu schaffen, aber ich weiß nicht, wie man so etwas hinbekommt. Ich kann nicht mehr in meine Welt zurück. Jedes Mal, wenn ich es versuche, fühlt es sich an, als würde mir jemand eine Axt in den Kopf schlagen.«
Ich wundere mich über das Lächeln, das seine Lippen umspielt. Selbst nach allem, was geschehen ist, bringt Zélie eine andere Seite in Inan zum Vorschein.
»Wie geht es ihr?«
Ich verdrehe die Augen und sehe zur Seite. »Sie will dich um jeden Preis vernichten. Ist völlig blind vor Zorn.«
»Glaub mir, das weiß ich.« Inan zieht den Saum seines Oberteils hoch und zeigt mir die neue Narbe in seiner Seite. »Aber wenn sie nicht gerade nach meinem Blut lechzt, wie geht es ihr dann? Wie ist ihre Stimmung?«
Ich rümpfe die Nase und versuche, Zélie durch andere Augen zu sehen. Wir gehen uns nun schon so lange aus dem Weg, dass ich sie nicht mehr als meine Freundin betrachte.
»Sie hat jetzt ihren Clan«, sage ich langsam. »Es sind nicht viele Seelenfänger, aber es reicht. Sich um sie zu kümmern, macht sie glücklich. Sie bringen sie tatsächlich zum Lachen.«
»Das ist gut.« Inan lässt sich rücklings in die Blumen sinken, seine bernsteinfarbenen Augen nehmen einen weichen Ausdruck an. »Sie hat es verdient, glücklich zu sein.«
»Wir vielleicht nicht?«
»Wir gehören zur Königsfamilie«, sagt er verächtlich. »Wir leiden, damit die anderen lachen können.«
Ich ziehe die Knie an die Brust. Das will ich nicht hören. Ich bin es müde zu leiden, weil die Menschen in unserem Königreich sich weigern, an den Frieden zu glauben. Ich weiß, dass es eine Welt gibt, in der wir es schaffen können. Ein Orïsha, in dem Maji, Tîtánen und Kosidán friedlich nebeneinander existieren.
Ich glaube noch immer an das Orïsha meiner Träume, selbst wenn die Realität mir Albträume beschert.
»Sie bereiten sich darauf vor, dich zu vernichten.« Ich atme tief aus. »Ich versuche ständig, die Iyika zu überzeugen, dass Frieden möglich ist, aber sie trauen keinem Monarchen. Sie wollen Zélie auf dem Thron sehen.«
»Zélie?« Inan schießt hoch.
»Sie wird die Kriegerin des Todes genannt. Bei den Maji ist sie eine lebende Legende. Aber wenn sie den Thron besteigt …«, ich verstumme, meine Brust zieht sich zusammen. Ich würde gerne glauben, dass Zélie die richtige Entscheidung träfe, doch nach allem, was seit der Rückkehr der Magie passiert ist, erscheint mir das naiv. Sie hat kein Interesse an einer Einigung. Sie will die Zerstörung.
»Was wollen die Iyika denn?«, fragt Inan. »Was fordern sie, damit die Kämpfe aufhören?«
»Macht.« Ich denke an die Gesichter der Ältesten. »Wahre Freiheit. Sie wollen, dass Folter und Verfolgung ein Ende haben. Sie verlangen einen Platz im Adel und wollen mitreden, was im Königreich geschieht.«
Inan atmet durch. Bei jeder Forderung scheint seine Brust breiter zu werden. Er denkt über meine Worte nach und reibt sich die Hände.
»Das ist alles?«
Ich zucke mit den Schultern. »Mehr oder weniger.«
»Okay.« Er nickt. »Wie kann ich ihnen das geben?«
Ich packe ihn am Arm und reiße die Augen auf. »Ist das dein Ernst?«
»Wenn es nötig ist, um diesen Krieg zu beenden«, sagt er, »dann will ich das auch.«
»Ich wusste es!« Ich klatsche in die Hände. Ein Hochgefühl steigt in mir auf. Doch ebenso schnell wird mir klar: Das reicht alles nicht.
»Was ist?«, fragt Inan, als ich die Schultern hängen lasse.
»Es ist ihnen egal, dass wir dasselbe wollen. Die Iyika werden einer Erklärung von dir niemals glauben.« Ich schüttele den Kopf. »Sobald sie hören, dass ich trotz ihres Verbots mit dir gesprochen habe, werden sie so erzürnt sein, dass sie mir nicht mal zuhören.«
Inan reibt sich die Finger und legt nachdenklich die Stirn in Falten.
»Was ist, wenn sie es nicht von dir erfahren?«, fragt er. »Sondern von mir persönlich? Ich könnte einen Vertrag entwerfen und ihn den Anführern vorstellen.«
Als mir klarwird, wie ernst er es meint, macht mein Herz einen Sprung. Wenn der König persönlich so einen Vertrag anbieten würde, müsste selbst Zélie ihm zuhören.
»Du müsstest alleine kommen …«, beginne ich vorsichtig.
»Ich habe keine andere Wahl. Nach dem, was in Chândomblé passiert ist, würde der Hofrat mich eher hinrichten lassen, als das zu erlauben.«
»Aber wie bekommen wir dich aus dem Palast heraus?«, frage ich.
»Ojore hält mir den Rücken frei, wenn er weiß, dass ich mich mit dir treffe.«
Inan reicht mir die Hand, und meine Brust zieht sich zusammen. Genau das war mein Ziel; der Friede ist zum Greifen nah.
Doch beim Anblick der Linien in der Handfläche meines Bruders sickert Zélies Stimme in meinen Kopf:
Er macht das Richtige, wenn es ihn nichts kostet, aber wenn es drauf ankommt, fällt er dir in den Rücken! Du kannst ihm nicht trauen, Amari. Das Einzige, was er uns hinterlässt, sind Narben!
»Was wird aus mir werden?« Ich sehe ihn fragend an. »Während du krank warst, habe ich mich auf meine Aufgaben als Königin vorbereitet. Wie geht es nach dem Krieg weiter?«
Inan lässt die Hand sinken und denkt über meine Worte nach. »Mutter unterstützt mich leidenschaftlich, aber sie lebt in der Vergangenheit. Orïsha braucht eine Königin, die bereit ist, alle miteinander zu versöhnen.«
Meine Hände sacken schlaff hinunter. Mit ausgestreckten Armen kommt Inan auf mich zu.
»Meinst du es ernst?«, frage ich.
»Wir werden gemeinsam regieren«, sagt er. »So wie es von Anfang an hätte sein sollen.«
Das Gewicht der ganzen Welt fällt mir von den Schultern. Ich stürze mich auf meinen Bruder und schlinge die Arme um ihn. Wie stolz ich auf ihn bin! Ich habe immer gewusst, dass er ein hervorragender König wird.
Er erwidert meine Umarmung. Plötzlich beginnen meine Narben zu kribbeln.
Ich hoffe, Zélie lässt ihn lange genug atmen, dass er Orïsha den Frieden bringen kann, den wir uns beide wünschen.