Kapitel 48
Zélie
Als die Sonne über den Horizont steigt, sagt keiner meiner Seelenfänger ein Wort. Von einer Klippe aus sehen wir zu, wie sie den Himmel in Flammen setzt und warme Strahlen über die Hügel hinter dem Sanktuar wirft. Sie beleuchtet die Nebelteppiche zwischen den Mammutbäumen, so dass die Paviander zum Vorschein kommen, die sich durch die Äste schwingen. Die Sonne scheint auf unsere Ziellinie. Ich überlege mir, welche Strecke ich nehme.
»Da drüben!« Ich weise auf den Hügel, wo ich mit Amari geübt habe. »Wer als Erster oben ist.«
»Ich.« Mári reibt sich die Hände. »Kommt mir bloß nicht in die Quere!«
Ich muss über ihre Entschlossenheit schmunzeln. Der Hügel ist fast drei Kilometer vom Sanktuar entfernt. Das wird unsere bislang längste Strecke. Nach einem halben Mond Training kann ich den Umgang meiner Schüler mit den neuen Beschwörungsformeln hier am besten prüfen.
»Wenn ich gewinne, werde ich dann deine Adjutantin?«, fragt Mári.
Mâzeli hinter mir verschränkt die Arme vor der Brust. Er bekommt seine Formeln zwar allmählich in den Griff, aber mit den Flügeln hat er noch Probleme.
»Wer gewinnt, darf bis in alle Ewigkeit damit angeben«, biete
ich an. »Das ist das erste Seelenfänger-Rennen. Oya selbst wird den Sieger loben und preisen.«
Alle drei Gesichter leuchten auf. Mein Herz beginnt schneller zu klopfen. Ich weiß, dass ich Mama Agba genauso angesehen habe, wenn sie uns Geschichten von den Göttern erzählte.
Meine Schüler gehen in Position, bereiten sich auf ihre Formeln vor. Ich warte. Bimpe knackt mit den Fingerknöcheln. Mâzeli schüttelt die Beine aus.
»Passt auf!« Ich hebe die Hände. »Drei … zwei …«
»Eins!«, ruft Mári und stürmt los. Ihre Afrolocken hüpfen auf und ab. Die anderen stürzen ihr hinterher. Sie springt von der Klippe.
»Èmí òkú, gba ààyé nínú mi …«
Schatten schießen aus Máris Händen und verweben sich zu einem weinfarbenen Gleiter auf ihrem Rücken. Fortwährend verändern die Luftströmungen die Form des Gleiters, doch er erlaubt es Mári, auf dem Wind zu reiten.
Unter fröhlichem Lachen übernimmt sie die Führung. Da wird sie von einer starken Böe vom Kurs geweht. Der Wind ist so kräftig, dass selbst ich aufpassen muss.
»… Jáde nínú àwon òjìjí re. Yí padà láti owó mi!«
Bimpe unter mir hat eine andere Taktik. Ihre Schatten bilden ein großes Dreieck in ihrem Rücken und fangen den Wind ein wie die Segel eines Bootes. So schwebt sie zu Boden. Als sie sich dem rauschenden Fluss nähert, sagt sie eine andere Formel auf. Die Todesschatten lösen sich in Rauchwolken auf und bilden ein Brett unter ihren Füßen, mit dem sie über die rauschende Strömung surft.
»Hast du das gesehen, Mári?« Strahlend gleitet Bimpe mit ihrem drahtigen Körper dahin. Ihre hüftlangen Zöpfe peitschen auf ihre dunkle Haut.
Unglaublich.
Ich hole meine Schatten heran und fliege etwas tiefer über den Bäumen, um Bimpe beobachten zu können. Es sieht aus, als sei sie nicht zu schlagen. Da höre ich Mâzeli.
»… Yí padà láti owó mi!«
Er zischt unter mir vorbei, fegt wie ein Wirbelwind zwischen den Bäumen hindurch. Seine lavendelfarbenen Schatten sind noch immer zu schwach, um ihre Form zu behalten, doch er nutzt diese Schwäche zu seinem Vorteil. Kaum lösen sie sich auf, schleudert er sie erneut von sich und formt sie zu einem Seil. Sie schlingen sich um den nächsten Ast, und Mâzeli katapultiert sich nach vorn, ein ums andere Mal.
»Super!«, rufe ich mit großen Augen von oben. Wie ein Gorillion an Lianen schwingt sich Mâzeli von einem Schatten zum nächsten. Seine eleganten Bewegungen rauben mir die Sprache. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, die Schatten des Todes auf diese Weise zu benutzen.
Als er den Hügel erreicht, wird mir ganz warm vor Stolz.
»Gewonnen!« Er reißt die Arme in die Höhe. »Ich bin der beste Seelenfänger, den es je gab!«
»Das ist ungerecht!« Mári landet hinter ihm. »Ich dachte, wir müssten fliegen!«
Sobald ich auf dem Grasboden aufsetze, lösen sich meine Schatten auf. »Das habe ich nie gesagt.«
Mâzeli stemmt die Hände in die Hüften und stolziert mit geschwellter Brust umher. »Ich bin der neue Krieger des Todes! Nein … ich bin der Meister!«
»Du bist kein Meister«, schnaubt Mári verächtlich.
Ich lache über ihre Hänseleien. Wie gerne wäre ich auch so unbeschwert und fröhlich. Als Erstes überlege ich, Tzain davon zu erzählen, doch dann schleicht sich Roën in meine Gedanken. Ich kann mir gut vorstellen, in welche Schwierigkeiten er
Mâzeli bringen würde, sobald er wüsste, wie der Seelenfänger sich bewegen kann. Wahrscheinlich würde er versuchen, den armen Jungen in seinen Söldnertrupp aufzunehmen.
Ich muss grinsen und drehe mich zu Bimpe um. Als sie den Hügel endlich erklommen hat, nehme ich sie in die Arme. Da entdecke ich weiter unten einen Kopf mit einer weißen Haarsträhne.
Amaris schlanker Körper schlängelt sich zwischen zwei Abhängen hindurch. Sie scheint uns nicht zu bemerken. Es sieht nicht aus, als würde sie spazieren gehen. Eher so, als wollte sie nicht gesehen werden.
»Bring die Mädchen zurück!« Ich lege die Hand auf Mâzelis Schulter. »Ich muss mir etwas ansehen.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragt er.
Ich nicke. »Ich komme gleich nach.«
Er verbeugt sich, dann läuft er zu den anderen, und ich lasse mich vom Felsvorsprung in die Tiefe fallen. Meine Todesschatten sind mir mittlerweile zur zweiten Natur geworden, so dass ich die Formeln gar nicht mehr aussprechen muss. Sie wickeln sich um meine Arme und lassen mich langsam zu Boden gleiten.
Was macht sie da?
Ich schleiche Amari hinterher, muss zwischendurch dicke Lianenbündel hochheben. Seit ich Amaris Schriftrolle im Badeteich zerstört habe, haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Laut Tzain erwartet sie tatsächlich, dass ich mich bei ihr entschuldige.
Wahrscheinlich will sie heimlich nach Lagos.
Ich presse die Lippen aufeinander und balle die Faust. Ich könnte ihr die Zähne ausschlagen. Wann kapiert sie endlich, dass die Monarchie ihr Friedensangebot niemals annehmen wird?
»Bleib stehen, Amari!« Ich laufe los und folge ihr auf eine
Lichtung. Beim Klang meiner Stimme erstarrt sie. Ich fasse sie an der Schulter und drehe sie um.
»Wohin gehst du?«
Sie wird blass, sagt aber nichts.
Erst da entdecke ich zwischen den Bäumen einen zweiten Kopf mit einer weißen Strähne.