Kapitel 49
Zélie
Eine ganze Weile kann ich vor Bestürzung nicht sprechen. Ich weiß nicht, wie ich das einordnen soll, was ich sehe. Was es für meinen Clan bedeutet. Für die Iyika.
Als der Schock nachlässt, erbebt mein Körper vor Hass. Ich hebe drohend die Hand. Die Magie kneift und zwickt mich.
»Sagt mir einen Grund, warum ich euch nicht beide umbringen soll!«
»Zélie, nein!« Mit geweiteten Nasenflügeln stellt sich Amari vor Inan. Ihr Anblick lässt meine Magie nur noch heftiger brodeln. Ich ziele mit meiner anderen Hand auf ihren Oberkörper.
»Wie konntest du uns so verraten?«, rufe ich und suche die Bäume nach Soldaten in goldenen Rüstungen ab.
»Es ist alles gut.« Inan tritt hinter seiner Schwester hervor. »Ich bin allein hier.«
»Nie im Leben!« Wenn ich ihm so nah bin, fühle ich mich wie aus Glas. Mit zitternden Fingern versuche ich, die Hände ruhig zu halten. Ich weiß nicht, welche Beschwörungsformel ich aussprechen soll.
Seine Stimme, sein Gesicht – es schmerzt mir in der Brust. Ich muss an die Traumwelt denken, an das Gefühl, als er mich in die Arme nahm. Ich erinnere mich an jedes Versprechen, das er mir gegeben hat. An jede Lüge, die er erzählt hat.
Ich erinnere mich an jedes Mal, als er mein Herz hielt, nur um es zwischen seinen Fingern zu zerquetschen.
»Bitte, Zélie«, fleht Amari. »Inan ist hier, um dem Ältestenrat einen Vertrag anzubieten. Er ist bereit, auf alle Forderungen von dir und den Iyika einzugehen.«
»Er kann anbieten, was er will!« Ich fletsche die Zähne. »Die Maji sind erst frei, wenn jedes Mitglied der königlichen Familie unter der Erde liegt!«
»Ich auch?«, ruft Amari. »Ich bin die Tochter von König Saran. Die Tochter von Königin Nehanda. Ich gehöre zu dieser Familie, und trotzdem hast du mir erlaubt, für dein Volk zu kämpfen. Warum glaubst du mir nicht, dass ich das jetzt auch tue?«
»Nach dem hier traue ich dir überhaupt nicht mehr über den Weg!« Ich mache einen Schritt auf die beiden zu, sie weichen zurück. Um mich herum bilden sich Todesschatten, Rauchwolken, die nur auf meinen Befehl warten. Am liebsten würde ich Inan und Amari in der Luft zerreißen. Am liebsten wäre mir, ihre Körper würden zu Asche zerfallen. Ich kann nicht fassen, dass Amari so etwas tut.
Dass sie mein gesamtes Volk in Gefahr bringt.
»Glaubst du allen Ernstes, dass eine Schlacht vor den Toren von Lagos reicht, um die Monarchie zu stürzen?«, fragt Amari. »Selbst wenn du gewinnen solltest, denk an deine Seelenfänger! Wie viele von ihnen sterben werden!«
»Lass meinen Clan aus dem Spiel!« Meine Stimme bebt, meine Schatten werden immer dichter. Da hebt auch Amari die Hände. Blaue Funken umspielen ihre Fingerspitzen.
Ihre stumme Drohung trifft mich wie ein Pfeil ins Herz. Wickelt sich wie eine Kette um meinen Hals. Ich habe ihr gezeigt, wie man die Magie benutzt.
Jetzt setzt sie sie gegen mich ein.
»Ich kämpfe für euch, auch jetzt«, flüstert Amari. »Ich kämpfe für Mâzeli, Mári und Bimpe. Selbst wenn du das nicht erkennst.«
Als Inan einen Schritt auf mich zu macht, beiße ich die Zähne zusammen. Er geht um Amari herum, die weiter versucht, zwischen uns zu bleiben. Inan lässt sich nicht von ihr beschützen. Trotz meiner schäumenden, zischenden Schatten kommt er näher.
»Du tust so, als würdest du mich nicht kennen«, sagt er. »Als wüsstest du nicht, was in meinem Herzen ist. Aber das weißt du, Zélie, denn auch ich kenne dich. Je lauter du schreist, je mehr du dich wehrst, desto mehr sehe ich, dass du dich nicht verändert hast.« Er schüttelt den Kopf. »Du bist immer noch das kleine Mädchen, das befürchtet, der König würde ihm alles nehmen, was es liebt.«
Genau diese Angst steigt in mir auf, nur ist sie jetzt noch viel schlimmer. Damals waren mir nur Tzain und Baba geblieben. Ich dachte, mehr Menschen würde ich in dieser Welt nicht haben. Doch jetzt habe ich Mâzeli und meine Seelenfänger. Mama Agba und die Clans. Wenn ich die auch noch verlöre, würde ich das nicht überleben.
Das würde mein Herz nicht überstehen.
»Du kennst mich.« Inan senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Du weißt, dass das hier wirklich ist. Ich möchte alle Versprechen halten, die ich dir gegeben habe, Zél. Ich möchte ein Königreich errichten, in dem du jeden Tag lachen kannst. Ein Land, in dem du dich sicher fühlst!«
Mit bebendem Kinn kommt er näher. Er hält erst inne, als ich die Hand ausstrecke und auf seine Brust lege. Sein Leben liegt in meiner Hand, und doch sieht er mich an, als sei ich das einzige Mädchen in Orïsha. Das einzige Mädchen in der ganzen Welt.
Mir steigen Tränen in die Augen, doch ich werde nicht weinen. Nicht, wenn ich weiß, was es kostet, ihn in mein Herz zu lassen. Wenn ich nachgebe, werde ich nur noch mehr Narben davontragen.
»Diesen Tanz kennen wir schon«, stoße ich aus. »Du hast mir schon einmal ein neues Orïsha versprochen.«
»Damals war ich nicht König.« Inan hebt die Hände. »Jetzt habe ich die Macht, mein Wort zu halten.«
Schöne Lügen. Ich schließe die Augen. Nichts als Lügen.
Früher habe ich sie geglaubt.
Dann musste Baba den Preis dafür zahlen.
»Er hat einen Vertrag aufgesetzt.« Amari tritt mit erhobenen Händen vor. »In dem bekommt ihr alles, was ihr verlangt. Dann seid ihr frei. So kannst du alle schützen, die du liebst!«
Ich sehe zwischen den Geschwistern hin und her und hasse den Teil von mir, der ihr Angebot am liebsten annehmen würde. Der Teil von mir, der so gerne glauben möchte, dass dieser endlose Kampf ein Ende haben kann.
»Als ich vor ein paar Monden voller Hass und Zweifel war, haben Amari und du mich gebeten, vernünftig zu sein.« Inan schließt die Augen. »Stell dir vor, wie viele Leben wir hätten retten können, wenn ich damals schon der Anführer gewesen wäre, der ich hätte sein müssen. Stell dir vor, wie viele Maji du retten kannst, wenn du jetzt zu dieser Anführerin wirst.«
Seine Worte versetzen mich in die damalige Situation zurück. Ich weiß, wovon Inan spricht. Es war der Moment, kurz bevor Amari und Tzain gefangen genommen wurden. Bevor wir Zulaikha und die Siedlung der Divînés fanden.
»Ich weiß, es ist eine Zumutung, dich zu bitten, mir zu vertrauen«, sagt Inan. »Nach allem, was ich dir angetan habe. Nach allem, was du verloren hast. Aber wenn du deinem Clan wirklich helfen willst, warum entscheidest du dich dann nicht für den Frieden? Warum entscheidest du dich nicht für die einzigen Monarchen in Orïsha, die dir zusichern, was du verlangst?«
Meine Brust hebt und senkt sich. Ich denke an Mâzelis triumphierendes Lächeln. An den Hunger in Máris Augen. Ich stelle mir all die anderen Seelenfänger außerhalb des Sanktuars vor, die ich noch nicht einmal kenne und die nur darauf warten, Teil des Clans zu sein.
»Bitte!« Amari senkt den Kopf. »Erlaube den Ältesten wenigstens, den Vertrag zu lesen. Mehr verlange ich gar nicht.«
Ich sehe Inan an; meine Hand liegt noch immer auf seiner Brust. Sein Herzschlag hallt in meinen Knochen wider. Ich denke an früher, als dieser Puls mich an Ebbe und Flut erinnerte. An Sicherheit. An Heimat.
Ich atme tief durch, schließe die Augen und lasse die Hände sinken. Die Tränen, die ich zurückgehalten habe, laufen mir über die Wangen. Ich trete zurück.
»Das ist die richtige Entscheidung.« Amari will mich umarmen, aber ich hebe die Hand.
»Ich lasse keinen von euch beiden an mir vorbei, ehe ich den Vertrag nicht gesehen habe.«
Inan nickt und greift in den Ledersack auf seinem Rücken, um ein Pergament herauszuholen. Mir wird ganz leicht zumute.
Wie lange hat der Hass mein Denken bestimmt! Ich wollte, dass Inan für alles büßt, was er getan hat. Doch es fühlt sich richtig an. Die Ketten, die mein Herz gefesselt haben, lösen sich langsam auf.
Wenn dieser Friede Wirklichkeit wird … wenn er mich und meine Seelenfänger frei macht …
Bei den Göttern!
Das wäre unglaublich.
»Hier!« Inan gibt mir das Pergament, ich beginne zu lesen. Während ich die Worte überfliege, halten er und Amari die Luft an.
»Das reicht zwar nicht, um die anderen zu überzeugen«, sage ich, »aber es reicht, um alle an einen Ti–«
Plötzlich ertönt ein Horn. Erschrocken drehe ich mich um. Der Ton kommt aus der Richtung des Sanktuars und wird immer höher.
»Was ist das?« Amari dreht sich ebenfalls um. Inan zieht die Augenbrauen zusammen.
»Ich weiß es nicht …« Er verstummt. »Ich schwöre, dass ich allein gekommen bin!«
Schatten wachsen aus meinem Arm und wickeln sich um den Ast über mir. Ich lasse mich von ihnen in den Baum hinaufziehen, bis in die Krone, und bete dabei, dass der Alarm nicht das bedeutet, was ich befürchte.
Doch als ich ganz oben bin, sehe ich es: Nehandas schwarz-goldenes Wappen. Über hundert Samtbanner wehen im Dschungelwind, getragen von einer endlosen Schlange Militärwagen.
Eine Kälte, die ich seit der Blutnacht nicht mehr gespürt habe, breitet sich in mir aus.
Der Feind steht vor unseren Toren.
Der Krieg ist zu uns gekommen.