Kapitel 51
Zélie
Wie konnte er nur!
Ich hasse mich selbst dafür, mir auch nur diese Frage zu stellen. Auf dem Weg zurück zum Sanktuar reiße ich mir die Haut an Zweigen und Lianen auf. Meine Kehle brennt.
Ich muss an den Blick in Inans Augen denken. An die Zärtlichkeit in seinen Worten. Er ist verdammt gut geworden.
Als würde er seine Lügen selbst glauben.
Und Amari …
Ich kann jetzt nicht über ihren Verrat nachdenken. Selbst während ich laufe, gewinnen die rumpelnden Streitwagen an Boden. Drei Dutzend Soldaten reiten auf Pantheressen herein. Obwohl sie noch einen Kilometer von dem Berg entfernt sind, der das Sanktuar schützt, muss ich verhindern, dass das Militär näher kommt. Wenn Nehanda dabei ist, wird sie den gesamten Berg zum Einsturz bringen. Unsere Häuser und alle Bewohner würden darunter begraben.
»Jagunjagun!«
, ruft Mâzeli mir entgegen. Meine Seelenfänger haben sich einen halben Kilometer vor dem Sanktuar zusammengefunden. Ich sehe, wie die Angst in ihren braunen Augen schimmert. Ihnen zuliebe gebe ich mich gelassen.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Bimpe. »Es sind noch alle im Sanktuar!«
Am liebsten würde ich ihnen sagen, sie sollen laufen, so
schnell sie können, doch wir können nicht nur an uns denken. Die anderen Ältesten sind noch hinter dem Berg. Im Moment sind wir die Einzigen an der Front.
»Mári, hol die Ältesten!«, befehle ich. »Zu unserer Verteidigung brauchen wir jeden Maji, der kämpfen kann. Bimpe und Mâzeli, ihr bleibt bei mir.« Mári verschwindet zwischen den Bäumen. Ich sehe die anderen beiden an. »Wir sind jetzt diejenigen, die die erste Angriffswelle abwehren müssen.«
Ich weiß nicht, warum ich so ruhig bin, aber ich hinterfrage es nicht weiter. Wir drehen uns um, stellen uns den heranstürmenden Soldaten entgegen. Mâzeli und Bimpe begeben sich hinter mich. Dutzende Soldaten tragen eine goldene Rüstung. Die Ashê ihrer jeweiligen Kräfte umtanzt ihre Handschuhe. Ich sehe die rote Farbe der Flammentänzer, das Orange der Siecher. Es sind sogar Tîtánen dabei, die lila wie Seelenfänger leuchten.
»Konzentriert euch!«, rufe ich. Wir treten den Streitwagen in den Weg. »Bildet einen Kreis! Bereitet euch auf die Todesschatten vor!«
»Oya, bò wọ́n«
, flehe ich leise vor mich hin. »Beschütze sie.«
Ich beiße die Zähne aufeinander. Wir drei Seelenfänger verteilen uns auf dem unbefestigten Weg. Ich schließe die Augen, atme tief ein und spüre, dass die anderen dasselbe tun.
»Èmí òkú, gba ààyé nínú mi. Jáde nínú àwon òjìjí re …«
Mein Körper wird warm. Schatten winden sich um mich, wirbeln wie Lichtbänder. Meine beiden Seelenfänger machen es mir nach. Ihre Ashê verbindet sich mit meiner, mehrere Schemen entstehen.
»Yí padà láti owó mi!«
Unsere Schatten verlaufen ineinander wie Farben. Die Kraft lässt das dunkle Violett schwarz erscheinen. Wir skandieren unsere Formeln immer lauter, so dass die Schatten Gestalt
annehmen und sich verdichten, bis sie eine riesige große Pfeilspitze bilden. Mit den letzten Worten der Beschwörungsformel entfesseln wir unsere Kräfte. Der Pfeil schießt los, wir hören ihn fliegen.
»Achtung!«, ruft ein Tîtán. Die Zeit scheint stillzustehen. Ein Streitwagen rumpelt auf uns zu. Nur gedämpft dringen die Geräusche an mein Ohr.
Der erste Wagen versucht, unseren Schatten auszuweichen, und kommt ins Schleudern. Er rutscht vom Weg. Die darin hockenden Soldaten haben keine Chance. Sobald sie mit unseren Todesschatten in Berührung kommen, verbrennen sie zu Asche.
Schreie ertönen, doch das Wimmern der Qual verstummt schnell. Unsere Schatten versperren den Wagen den Weg, vernichten gleich drei auf einmal.
»Zélie, guck mal!« Mâzeli weist nach hinten. Die anderen Maji eilen uns zur Hilfe. Ihr Anblick gibt mir Mut. Gemeinsam können wir das Sanktuar verteidigen.
Keuchend stürme ich los.
»Kommt!«, rufe ich meinen Seelenfängern zu. »Noch mal von vorn!«