Kapitel 53
Zélie
»Émí òkú, gba ààyé nínú mi …«
Es kratzt mir im Hals, als die Magie aus meinem Innersten herausrasselt. Schatten winden sich wie Schlangen aus meinen Händen und stürzen sich auf die zehn angreifenden Soldaten. Sie fallen um wie Dominosteine. Die Schatten binden sie an Mammutbäume. Mâzeli skandiert seine eigene Beschwörungsformel und lässt einen riesigen Geist entstehen, der ein Dutzend weiterer Tîtánen ausschaltet.
»Wir schaffen es!«, ruft er, und ein Grinsen zieht sich von einem Ohr zum anderen. Auf der anderen Seite des Wegs werfen Nâo und ihre Wellenhüter fünf Tîtánen in den rauschenden Fluss. Die Maji lassen einen Strudel entstehen, der die Soldaten unter Wasser zieht, bis sie in dem Wirbel ertrinken.
Mâzeli und ich drehen uns um, bereit, erneut loszulegen. Plötzlich ertönt das Horn der Monarchie.
Der Alarm hallt durch die schmalen Täler, ein Geheul, das nach Tod klingt. Als die näher kommenden Truppen stehen bleiben, lassen sich die Soldaten in vorderster Reihe zurückfallen.
»Sie ziehen sich zurück!« Kenyon reckt die Arme in die Höhe, Feuerzungen lecken heraus. Jubelnd beobachten die Maji, wie die fliehenden Soldaten ihre Streitwagen und Majazitbomben zurücklassen.
Ich greife nach einer Baumwurzel und ziehe mich den Baum hoch. Von oben sehe ich, wie sie davonlaufen. Ich lasse den Blick über meine Maji und die Trümmer unter mir schweifen und suche das dichte Grün des Dschungels ab. Als ich in ungefähr zehn Metern Höhe bin, spüre ich es – ein Vibrieren in der Luft.
Mein Magen zieht sich zusammen. Gute vier Kilometer weiter fährt ein einzelner Streitwagen über den unbefestigten Weg, gezogen von drei Schneeleopardessen. Zwei Dutzend Soldaten stehen auf dem hölzernen Gerüst, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Die Generalin, die wir schon in Chândomblé kennengelernt haben, führt sie an. Ihr dicker Zopf reicht bis zur Taille.
Obwohl alle Soldaten eine goldene Tîtánen-Rüstung tragen, ist es der Anblick der Generalin, der meine Tätowierungen zum Kribbeln bringt. Als der Wagen die sich zurückziehenden Soldaten des Königs passiert, ergibt plötzlich alles einen Sinn.
Der Feind läuft nicht vor uns davon.
Er macht Platz für die Verstärkung.
»Rückzug!«, rufe ich. »Zurück ins Sanktuar!«
Die Iyika sehen fragend zu mir hoch. Die Tîtánen auf dem Streitwagen bleiben in einem Kilometer Entfernung stehen. Die Soldaten steigen von der Ladefläche.
»Was ist da los?«, ruft Mâzeli. Ich bekomme keinen Ton heraus. Die Generalin hebt die Hände. Auf ihren Befehl bilden die Tîtánen einen Kreis um sie. Ihre Augen glühen silbern, sie streckt die Handfläche aus.
»Sie ist ein Cênter!«, schreie ich. »Sie ruft den Wind!«
Das Vibrieren in der Luft wird zu einem heftigen Beben. Der Wind zerrt an uns, zieht an meinen Kleidern, wirbelt Blätter und Staub auf.
Chaos bricht aus. Alle wollen schnellstens ins Sanktuar. Um uns herum trappeln Pfoten, fliehende Rittlinge galoppieren vorbei, aufgescheucht von der Generalin. Mit einer Beschwörung lässt Na’imah eine Horde wilder Tigeressen erstarren, die von Norden kommen. Sie hält die Rittlinge so lange auf, bis die Ältesten und Maji draufgestiegen sind.
»Los!« Ich hieve Bimpe auf den gestreiften Rücken eines Tiers und will ihr weitere Anweisungen geben, doch der peitschende Wind übertönt meine Worte. Kurz darauf kann ich nicht mal mehr meinen Atem hören.
Eine neue Angst erfasst mich, als ich Bimpes Tigeresse antreibe. Ich gebe Mâzeli ein Zeichen, in Deckung zu gehen. Dann sehe ich, was für eine Waffe die Generalin aus dem Nichts zaubert. Ich traue meinen Augen nicht.
So etwas habe ich noch nie gesehen. Das hätte ich nicht für möglich gehalten.
Ein Schwert aus Luft saust auf uns zu, eine riesige Sense, die den Himmel zerteilt.
Es ist, als würde die Generalin einen Orkan wie einen Stock auf uns schleudern. Das Heulen des Windes erfüllt die Luft.
Die Klinge wühlt die Erde auf. Der dichte Dschungel wird licht. Wo das Schwert zuschlägt, wird die Luft schwer. Als es sich dem Urwald nähert, strecke ich die Hand nach Mâzeli aus.
»Runter!«
Die Klinge trifft den ersten Mammutbaum. Ich kann wieder etwas hören. Die Welt um uns herum explodiert, Borke und Holzsplitter fliegen in alle Richtungen. Wir ducken uns unter ein Knäuel dicker Wurzeln. Über uns knicken die gewaltigen Bäume um wie Strohhalme. Ich sehe einen Wirbelsturm aus Erde und höre den Wind heulen.
Wie macht sie das nur? Am ganzen Körper zitternd versuche ich, Mâzeli zu beschützen. Ich weiß ja, dass Cênter die Energie der Tîtánen um sie herum aufsaugen, aber in diesem Ausmaß ist das unglaublich.
Riesige Bäume liegen im Weg, mit ihren Wurzeln aus dem Boden gerissen. Die Streitwagen sind in tausend Stücke zerbrochen. Der Dschungel ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ein ganzer Kilometer Land ist komplett zerstört.
Mâzeli zittert in meinen Armen. Irgendwann lässt der Wind mit einem bösen Zischen nach. Es weht nur noch eine leichte Brise über dem schmalen Streifen der Zerstörung zwischen uns und den Tîtánen. Er wird uns nicht schützen können, wenn die Generalin erneut zuschlägt. So fleißig wir auch die Formeln unserer Schriftrollen geübt haben – mit dieser Art von Macht können wir es nicht aufnehmen. Dieser Cênter kämpft nicht mit der Magie von Sterblichen.
Diese Frau kämpft mit der Macht einer Göttin.
»Ist es vorbei?«, fragt Mâzeli.
»Ich weiß es nicht.« In der Ferne sehe ich das Dutzend Tîtánen liegen, die die Generalin für ihren ersten Angriff benutzt hat. Ihre Haut ist verschrumpelt, die Wangen sind eingefallen. Die lediglich von Haut überzogenen Skelette bilden einen Ring des Todes rund um die Generalin.
Doch trotz des ihnen bekannten Schicksals schart sich ein neuer Kreis von Tîtánen um die Generalin. Und wieder saugt sie die Kraft aus ihnen heraus.
»Noch so ein Angriff und sie zerstört die Mauern des Sanktuars!« Mâzeli reißt die Augen auf. »Wir müssen sie ausschalten!«
»Aber wie? Wir kommen ihr ja nicht mal näher!«
Ich drücke die Fäuste an den Kopf. Wieder leuchtet in den Augen der Cênter-Frau ein silbernes Licht auf. Ein gleichmäßiges Summen erfüllt die Luft. Der Wind beginnt zu heulen.
»Ich weiß, was wir tun können.« Mâzeli ballt die Fäuste und baut sich mit einer Zuversicht auf, die er gar nicht besitzt. Ich trete zurück und betrachte die Tätowierungen auf meiner Haut.
Mit der Macht eines Cênters können wir es nicht aufnehmen. Aber wenn wir diese Macht selbst in die Hände bekämen …
»Das ist zu riskant.« Ich schüttele den Kopf. »Das könnte unser Ende sein!«
»Wenn wir es nicht versuchen, bringt diese Cênter-Frau uns auf jeden Fall um! Wir müssen die Maji beschützen, um jeden Preis!«
Die Entschlossenheit in Mâzelis großen braunen Augen vermittelt Ruhe in dem ganzen Durcheinander. Er hat recht. Wir haben keine andere Wahl. Unsere Leute stecken hinter diesen Mauern.
Als sich die Magie des Mondsteins in meiner Brust rührt, wird mein Körper warm. Mâzelis Herzschlag dringt in meine Ohren. Das violette Licht der Ashê unter seiner Haut breitet sich aus.
»Bist du so weit?«
Er nickt und verschränkt seine Finger mit meinen. Meine Tätowierungen glühen golden. Dann flüstere ich die überlieferte Formel: »Ẹ tọnná agbára yin.«
Es ist, als würde ein Blitz zwischen unsere Handflächen fahren. Gemeinsam werden wir waagerecht in die Luft gehoben. Mâzeli brummt. Violettes Licht strömt aus unseren Augen und Mündern und umgibt unsere Herzen.
Die Lichtpunkte formen ein langes Band und verweben sich miteinander, um unsere Lebenskräfte zu verbinden. Obwohl die Luft immer dünner wird, spüre ich Oyas Kraft in unserem Atem.
»Es kommt!«, ruft Mâzeli, als wir wieder festen Boden unter den Füßen haben. Der Wirbelwind der Generalin schluckt alle Geräusche. Ohrenbetäubende Stille breitet sich aus. Wieder erscheint die Sense aus Wind. Bäume brechen in der Mitte durch. Doch als die Cênter-Frau ihre Kräfte entfesseln will, knistert violettes Licht um Mâzelis und meine Hände.
»Ẹmí àwọn tí ó ti sùn …«
Unsere Beschwörungsformel zerreißt die Stille.