Kapitel 55
Zélie
»Khani!«
Meine Stimme ist ein schrilles Kreischen, als Kâmarū uns auf die Krankenstation bringt. Sofort schaffen die Heiler Platz, damit wir in die Netzhängematten gelegt werden können. Obwohl ich kaum die Arme heben kann, drücke ich Mâzelis Hand, so fest ich kann.
Das goldene Licht meiner Tätowierungen flackert, während Mâzelis Puls und damit auch meiner immer schwächer wird. Der Mondstein hält unsere Seelen noch zusammen. Ohne ein Blutopfer können wir unsere Verbindung nicht aufrechterhalten.
»Oh, ihr Götter …« Mit betretener Miene kommt Khani zu uns gehastet. Ihr orangerotes Gewand und ihre weißen Zöpfe sind mit Blutflecken besprenkelt. Sie rückt ihre Brille zurecht und übernimmt das Kommando. »Yameenah, Wasser! Chibudo, saubere Verbände! Schnell, Obu – wir brauchen alle Hände!«
»Idán ti ẹjẹ, jí láti wo ọna rẹ láradá …«
»Ogbé inú, dáhùn ìpè wa …«
Ein Schwarm von Heilern macht sich an die Arbeit. Ihre rhythmischen Gesänge werden von den efeuumrankten Säulen zurückgeworfen. Khani und ihre Heiler lenken ihre Ashê in uns, legen ihre Hände auf unsere Köpfe, unsere Herzen, unsere Bäuche.
Doch trotz ihrer Bemühungen wird unsere Haut mit jeder Sekunde kälter. Unser Atem wird langsamer.
»Die Verbindung«, bringt Mâzeli hervor. »Du musst sie kappen.«
Seine schwindende Lebenskraft zerrt an meiner, ein Anker, der mich unter Wasser zieht. Doch trotz des wachsenden Drucks in meiner Brust will ich nicht nachgeben. Dass ich Blut spucke, interessiert mich nicht. Es ist mir egal, wie weh es tut.
Die Verbindung, die mich umbringt, ist das Einzige, was Mâzeli am Leben hält.
»Wir schaffen das«, keuche ich. »Bleib einfach da –«
Mâzeli beginnt zu krampfen, mein Körper wirft sich hin und her. Die Heiler haben Probleme, mich festzuhalten, so heftig zucke ich in der Hängematte. Wie sehr ich mich auch anstrenge, ich bekomme keine Luft.
»Mama Agba, ich brauche dich!«, ruft Khani.
Die in Silber gekleidete Seherin kommt auf die Krankenstation geeilt. Ich kann nur noch verschwommen sehen. Mama Agbas runzlige Hände drücken auf meine Brust. Sie ruft einen überlieferten Spruch, den nur sie kennt.
»E túu síl ẹ̀
Es ist, als würde der Blitz, der Mâzeli und mich verbindet, nun in mein Herz fahren. Mein Rücken wird lang, meine Tätowierungen leuchten auf. Dann wird es dunkel.
Es hallt mir in den Ohren. Mein Magen brennt. Doch als ich wieder einatme, wird mir eiskalt.
Ich bekomme Luft, kann aber Mâzeli nicht mehr spüren.
»Mâzeli!« Ich greife nach meinem Herzen und rutsche aus der Hängematte zu Boden. Sein Körper zuckt immer noch unkontrolliert. Seine Haut ist eiskalt.
»Ẹ tọnná agbára yin!« Ich greife nach seiner Hand. »Brenne! Verbinde dich!« Doch so sehr ich auch versuche, unsere Lebenskräfte wieder miteinander zu vereinen, meine Tätowierungen wollen nur müde flackern. Meine Magie ist tot.
»Du bist zu schwach!« Mama Agba packt mich an den Schultern, doch ich schiebe sie von mir. Mein Blick wird schwarz vor Zorn. Er ist so gewaltig, dass ich nicht mehr klar sehen kann.
»Was hast du getan?«, dröhnt meine Stimme durch die Krankenstation. In dem Moment hört Mâzeli auf zu krampfen und stöhnt. In mir sackt alles zusammen.
»Jagunjagun …«
Seine Stimme ist unsagbar schwach. Wo er sonst so ein lautes Organ hat. Ich halte mir den Mund zu, um nicht laut aufzuschluchzen.
»Ich bin hier.« Ich nehme Mâzelis Hände und küsse seine kalten Finger. »Ich bin bei dir. Ich gehe nicht weg.«
Während die Zeichen des Mondsteins auf meiner Haut flackern, sehe ich die violette Lebenskraft um Mâzelis schlaffen Körper zucken. Vorher hat sie so hell gestrahlt. Jetzt versiegt sie vor meinen Augen. Ein Stern, der nicht mehr leuchtet.
Hinter Mâzeli hebt Khani hilflos die Hände. Ihr Gesichtsausdruck sagt alles. Er ist nicht zu retten.
Es ist passiert.
»Die anderen …« Mâzelis Augenlider flattern. »Hab ich … sind sie …«
»Sie sind gerettet.« Ich kämpfe gegen den Kloß in meinem Hals. »Das haben wir dir zu verdanken.«
Schimmernde Tränen sammeln sich in Mâzelis braunen Augen, doch er versucht, nicht zu weinen. Ich kann mein Schluchzen nicht mehr zurückhalten.
»Ich kann nicht … ich will nicht …«
Er beginnt zu zittern. Ich kann fast sehen, wie die Angst in ihm wächst. Ich wische meine Tränen fort und versuche, mein Herz zu stählen. Ich darf nicht weinen, wenn er mich am meisten braucht.
»Dies ist nur der Anfang.« Ich streichele seinen Kopf, so wie Mama das früher bei mir gemacht hat. »Auf der anderen Seite wirst du deine Mutter sehen. Dann kannst du wieder mit Arunima lachen.«
»Oya auch?« Er drückt meinen Arm, Tränen laufen über seine Wangen. Ich nehme sein Gesicht in die Hände und lächele ihn so aufmunternd wie möglich an.
»Oya wird ihren mutigsten Krieger mit offenen Armen empfangen.«
Mâzeli will nicken, doch sein Gesicht verzieht sich vor Schmerz. Wieder quillt Blut aus seinem Mund.
»Ich habe keine Angst.«
»Gut.« Ich drücke meine Stirn gegen seine. »Du bist ein Krieger des Todes. Du hast nichts zu fürchten.«
Jedes meiner Worte ist eine Klinge, die mich unerbittlich durchbohrt. Ein Pfeil, der in Babas Brust geschossen wurde. Ein Drang, mir das Herz herauszureißen und es noch einmal zu vergraben.
»Die Seelenfänger …«, bringt Mâzeli kaum hörbar hervor. »Sorg dafür, dass sie nicht traurig sind.«
Sosehr er auch versucht, seine schönen Augen offen zu halten, sie gleiten immer wieder zur Seite.
»Mâzeli!« Ich umklammere seine Hand fester, sein Griff wird schwächer.
»Sei nicht …« Seine Augen schließen sich. »… traurig.«