Kapitel 56
Amari
Mit brennenden Muskeln haste ich die Stufen zum Sanktuar der Maji hinauf. Um mich herum sehe ich den Schaden, den ich angerichtet habe. Weil ich Inan vertraut habe.
Das Sanktuar steht zwar noch, doch überall auf den Steinwegen und im Gras am ersten Berg liegen Verletzte. Die Adjutanten der Ältesten halten die anderen Maji davon ab, die Brücken zu überqueren, damit sich die Heiler um die Verletzten kümmern können.
»Um Yemọjas willen!«, flucht Nâo, als eine Heilerin ihr ein dickes Stück Rinde aus dem Oberschenkel zieht. Schweiß läuft über ihren kahlrasierten Kopf. Die Tätowierung in ihrem Nacken ist blutverschmiert.
Vor ihr liegt Kenyon bewusstlos auf dem Rücken und atmet langsam und flach. Seine weißen Rastalocken kleben ihm an der Stirn. Na’imah versucht, ihn wiederzubeleben.
»Zélie?« Ich suche sie im Chaos, doch sie ist nirgends zu sehen. Ich finde nicht mal Mâzeli. Kein Seelenfänger ist da.
»Hey.« Ich halte einen Heiler am Arm fest. »Hast du Zélie gesehen?«
»Sie musste auf die Krankenstation …« Er macht große Augen. »Mâzeli und sie haben nicht mehr geatmet …«
Sofort laufe ich los in Richtung Hauptturm, vorbei an zahllosen Toten. Ich stoße die Heiler zur Seite, die mir im Weg stehen. Die Stufen zum Turm sind voller Blut, eine Spur des Grauens zur Krankenstation. Ich kann nur beten, dass es nicht Zélies ist. Wenn ihr etwas passiert ist, werde ich mir das niemals verzeihen …
»Nein!«
Der Schrei lässt mich innehalten. Er klingt nicht menschlich. Sein Widerhall in den Gängen stoppt mich mit einer Gänsehaut vor den Schwingtüren der Krankenstation.
Mein Instinkt befiehlt mir, draußen zu bleiben, doch ich zwinge mich, den mit Efeu bewachsenen Raum zu betreten.
»Zélie?« Als ich sie entdecke, werden meine Beine schwach. Dann sehe ich den Grund für ihre Trauer.
Bei den Himmeln …
Ich schlage die Hände vor den Mund. Zélie krümmt sich über Mâzelis geschundenen Körper, schlingt die Arme um seinen Hals. Der Junge, der nie stillsitzen kann, liegt völlig reglos da. Blut sickert ihm aus den Mundwinkeln.
Seine dürren Arme hängen schlaff hinunter.
Er macht das Richtige, wenn es ihn nichts kostet, aber wenn es drauf ankommt, fällt er dir in den Rücken! Du kannst ihm nicht trauen, Amari. Das Einzige, was er uns hinterlässt, sind Narben!
Ich starre auf eine Wunde, die niemals heilen wird, und werde von Schuldgefühlen zerfressen. Sie hat versucht, mich von der Wahrheit zu überzeugen, doch ich habe lieber Inan geglaubt.
»Zélie, du musst dich ausruhen.« Mama Agba nähert sich ihr vorsichtig. Zélies Schmerz bildet eine unsichtbare Wand um sie herum. Niemand traut sich, zu ihr zu gehen. Sie weint herzzerreißend.
Als Mama Agba Zélies Namen ruft, reagiert sie nicht. Doch als die Seherin die Hand auf Zélies Schulter legt, zuckt diese zusammen.
»Fass mich nicht an!« , schreit sie so durchdringend, dass ein Glas zerspringen könnte. Sie schubst Mama Agba so heftig von sich, dass die ältliche Seherin gegen eine Säule taumelt.
»Er konnte nicht gerettet werden!« Tränen stehen in Mama Agbas Augen. »Du wärst gestorben …«
»Dann sterbe ich halt!«, keift Zélie zurück. »Das wäre besser gewesen!« Sie drückt die Hände auf die Brust, ihr Gesicht verzieht sich vor Schmerz. Sie gräbt sich die Fingernägel ins Fleisch, als wollte sie ihr eigenes Herz herausreißen.
»Ich hätte sterben sollen«, sagt sie leise und fällt auf die Knie. »Ich hätte sterben sollen …«
Es fühlt sich an, als würde die Welt um mich herum zusammenbrechen. Wegen mir ist Mâzeli tot. Wegen mir haben wir diesen Krieg wohl verloren.
Auch wenn wir Inans Armee heute vertrieben haben, können wir davon ausgehen, dass er mit mehr Leuten zurückkommt. Wir haben unser Versteck verloren. Unseren Vorteil eingebüßt.
Zélies Schluchzen wird so heftig, dass Khani eingreifen muss.
»Betäubt sie!«, ordnet die Heilerin an. »Das ist zu viel für ihren Körper.«
Als die Heiler sich Zélie nähern, schlägt sie wie ein wildes Tier um sich. Ich muss den Raum verlassen. Die Beschwörungsformeln erklingen. Ich kann nicht ertragen zu sehen, was ich angerichtet habe.
Ich kann nicht ertragen, ihre Schreie zu hören.
Das Kreischen dringt durch die Schwingtüren. Ich halte mir den Mund zu, um mein Schluchzen zu ersticken.
Ich habe alles kaputtgemacht.
Und ich weiß nicht, ob ich es wiedergutmachen kann.