Kapitel 58
Zélie
Sei nicht traurig.
Mâzelis Stimme hallt noch immer durch meinen Kopf. Stumme Tränen rinnen mir über die Wangen und fallen auf die Fliesen im Bad meines Ältestengemachs. Ich schlinge die Arme um meinen Brustkorb. Meine Rippen schmerzen, das Atmen tut weh. Nach drei Tagen hat die Welt jede Farbe verloren. Noch immer habe ich Mâzelis Blut auf der Haut.
»Zélie?« Tzains Stimme dringt durch die Schlafzimmertür.
Ich erstarre und halte mir den Mund zu, damit man nicht mein ersticktes Atmen hört.
»Die Versammlung fängt gleich an«, sagt er leise. »Die Ältesten fragen nach dir.«
»Ist mir egal.« Ich schaue zur Seite. »Verschwinde!«
Da die Monarchie nun weiß, wo sich das Sanktuar befindet, sind alle in höchster Alarmbereitschaft. Ich sehe und höre jedoch nichts, nur meinen eigenen Schmerz. Unser ganzes Leben besteht aus kämpfen, kämpfen, kämpfen.
Wozu das alles, wenn unsere Leute doch nur sterben?
»Sei nicht traurig«, wiederhole ich leise Mâzelis letzte Worte. »Sei nicht traurig.« Mit zitternden Beinen hieve ich mich hoch und drehe mich zur Kupferwanne, die schon seit Stunden auf mich wartet. Ich tauche die Finger ins kalte Wasser. Die Luft um mich herum wird dünn. Das geschieht jedes Mal, wenn ich versuche, die letzten Reste von Mâzeli von mir abzuwaschen.
Verdammt.
Ich packe mir an die Kehle. Die Schuldgefühle drohen mich zu ersticken. Das Badezimmer fängt an, sich zu drehen. Als wäre die ganze Luft herausgesaugt worden.
Er hätte überleben können. Er hätte überleben sollen. Es war meine Aufgabe, ihn zu beschützen. Und ich habe versagt.
Jetzt muss ich mit der Bürde meiner Fehler leben.
Leise klopft es an meiner Schlafzimmertür. Als sie sich öffnet, zieht sich in meiner Brust alles schmerzhaft zusammen.
»Verschwinde!«, keuche ich. Ich will nicht, dass Tzain mich so sieht.
Ich krieche zur Badezimmertür und versuche, sie zu schließen. Doch bevor ich sie erreiche, wird sie von einer bandagierten Hand aufgeschoben. Ich traue meinen Augen nicht, als die Person dahinter zum Vorschein kommt.
»Roën?«, flüstere ich ungläubig.
Die schwarzen Locken umspielen den kantigen Kiefer des Söldners. Er kniet sich vor mich auf die Fliesen und legt seine schwieligen Hände auf meine Wangen.
»Was machst du …«
»Pssst …«, unterbricht er mich. »Atme gleichmäßig!«
Mit Tränen in den Augen versuche ich einzuatmen, krümme mich aber heftig, als der nächste Krampf meine Brust zerreißen will.
»Schau mich an!« Roën dreht mein Gesicht zu sich herum, zärtlich, aber bestimmt. Ich will ihm nicht in die Augen sehen. Ich will nicht, dass jemand merkt, wie kaputt ich wirklich bin.
»Schau mich einfach an.« Er senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Es ist gut.«
Es fühlt sich an, als würde ich mit bloßen Händen zwei Berge auseinanderschieben, doch als ich in seine Augen blicke, kann ich endlich Luft holen. Es gelingt mir, einen schwachen, erstickten Atemzug zu tun. Roëns Hände werden noch sanfter.
»Genau so.« Mit den Daumen streicht er über die Haut hinter meinen Ohren. Ich starre ihn keuchend an, bis die Luft im Raum wieder zurück ist.
»Was machst du hier?«, frage ich. Roën zieht mich hoch und setzt mich auf den Wannenrand. Der Schmerz in meiner Brust wird wieder stärker.
»Die Ältesten haben mich gerufen. Sie haben alles zusammengelegt, was sie hatten, damit ich dir helfe.«
Er greift zu einem Lappen, hält mein Kinn fest und wischt ganz vorsichtig das Blut und den Schmutz von meinem Gesicht. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich ihm entgegen und atme seinen honigartigen Duft ein.
»Er ist gegangen«, sage ich mit bebenden Lippen.
Es klingt so seltsam, die Worte laut auszusprechen. Ich habe Mâzeli erst vor zwei Monaten kennengelernt. Keine Ahnung, wie er sich so tief in mein Herz graben konnte.
»Ich hatte nie einen Adjutanten.« Roën wringt den Lappen aus. »Aber ich hatte eine Partnerin. Der Tag, als ich sie verlor, ist bis heute der schlimmste, den ich je erlebt habe.«
Seine Stimme hat einen monotonen Klang, doch können die Worte seine Narben nicht verbergen. Es ist seltsam, wenn er sich mir so öffnet. Wenn er mir das Herz zeigt, das er angeblich gar nicht hat.
»Woher kanntest du sie?«
Ein leichtes Lächeln legt sich auf seine rosa Lippen, doch schnell ist es wieder fort. »Sie hat gesehen, wie ich im Müll wühlte. Hat mich praktisch aus dem Dreck gezogen. Wahrscheinlich würde sie noch leben, wenn sie mich einfach weiter hätte hungern lassen.«
Wieder steigen mir Tränen in die Augen. Ich muss mich abwenden. Wo Mâzeli wohl heute wäre, wenn wir uns nicht kennengelernt hätten? Wenn ich über das Meer entkommen wäre. Ich habe diesen Krieg nie gewollt. Diesen Clan. Nach Babas Tod wollte ich nichts und niemanden mehr.
Ich wollte einfach nur frei sein.
»Ich muss hier raus.« Ich schüttele den Kopf, wische meine Tränen ab.
»Aus dem Sanktuar?«
»Aus dem ganzen Königreich.«
Die Worte erscheinen mir wie Verrat, aber ich kann mich nicht länger belügen. Es war närrisch von mir zu glauben, dass ich durch diesen Krieg Freiheit erlangen könnte. Das Einzige, worauf ich mich verlassen kann, sind Unheil und Tod. Sie folgen mir, wohin ich auch gehe.
Als ich in das rote Badewasser starre, wird mir klar, dass ich so nicht weitermachen kann.
»Ich will nicht noch mehr Menschen begraben, die ich liebe«, flüstere ich.
Roëns Hand schwebt über meiner Wange. Er denkt über meine Worte nach, weicht meinem Blick aus, taucht den Lumpen ins Wasser und wischt das Blut von meinen Händen.
»Meinst du das ernst?«
Ich nicke, und Roën schaut zu Boden.
»Wenn du wirklich gehen willst, ist jetzt der beste Moment.«
Ich lege den Kopf schräg. »Woher willst du das wissen?«
»Mehr kann ich nicht sagen.«
Als er meinen Arm abtupfen will, halte ich seine Hand fest.
»Sprich!«, fordere ich. »Was weißt du?«