Kapitel 59
Amari
Ich muss das wiedergutmachen.
Alle Bewohner des Sanktuars sammeln sich auf dem dritten Berg. Mâzeli war zwar der einzige Maji, der bei dem Angriff ums Leben kam, doch sein Lachen scheint überall zu fehlen. Sein Tod hängt über uns wie eine graue Wolke. Der Verlust drückt mir schwer auf der Brust.
Die Ältesten gruppieren sich um den Blutstein. Ich habe das Gefühl, nicht dazuzugehören. Seit dem Angriff der Monarchie rechne ich jeden Tag damit, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Dass die Maji mich für meinen Fehler bestrafen. Doch Zélie hat noch nicht verraten, wie die Armee unser Lager gefunden hat. Ich weiß nicht, warum sie mich schützt.
»Wir müssen uns entscheiden!«, ruft Nâo, um die anderen zu übertönen. »Aber das Sanktuar ist ungeschützt. Es ist zu gefährlich, hierzubleiben.«
»Wo sollen wir denn hin?«, fragt Na’imah. »In Orïsha gibt es keinen sicheren Ort.«
»Wir gehen nirgends hin«, ruft Kenyon. »Wir kämpfen!«
Ich hebe den Kopf. Tzain läuft mit den letzten Maji über die Steinbrücke. Als er meinen fragenden Blick bemerkt, schüttelt er den Kopf. Zélie kommt also nicht. Ich habe Angst, dass sie ihr Zimmer nie wieder verlässt.
Ich muss eine Möglichkeit finden, diesen Krieg zu gewinnen. Jetzt mehr denn je. Wenn mir das nicht gelingt, ist Mâzeli umsonst gestorben. Dann waren all unsere Schmerzen und unser Leid sinnlos.
Kenyon ergreift das Wort: »Das alles hat in Lagos angefangen. Dort soll es auch enden. Wir behaupten ständig, wir könnten uns nicht verteidigen, dabei haben wir uns mit dem Mondstein die königlichen Truppen vom Hals gehalten. Wir wissen doch, was wir zu tun haben!«
»Zélie wird diese Kraft nicht noch einmal einsetzen«, melde ich mich zu Wort. »Nicht nach dem, was mit Mâzeli passiert ist.«
»Wieso kann sie das bestimmen?«, gibt Kenyon zurück. »Hol endlich einer das Mädchen aus ihrem Zimmer!«
Mit bebenden Nasenflügeln stürzt Tzain aus dem Ring der Menschen um den Blutstein in die Mitte. Ich stelle mich vor ihn.
»Lass es.« Ich lege ihm die Hand auf die Brust. »Das macht alles nur noch schlimmer.«
»Habt ihr denn überhaupt kein Verständnis?«, schreit er. »Sie hat ihren Adjutanten verloren!«
»Ich habe ein Viertel meines Clans verloren!«, ruft Kenyon. »Aber ich hocke nicht hier rum und heule!«
Ein Stimmengewirr bricht los. Es ist unmöglich, irgendetwas zu verstehen. Ich schließe die Augen und versuche, den Lärm auszublenden. Wir können hier nicht bleiben, aber genauso wenig können wir blind angreifen. Wenn wir das nächste Mal auf Inans Truppen treffen, müssen wir genau wissen, was wir tun.
Nur eine Seite wird überleben.
»Was denkst du?«, fragt Tzain. Ich hebe die Hände und schaue auf die Narben, die ich von meiner Magie davongetragen habe. Beinahe höre ich Vater die Worte flüstern, die er mir schon als Kind einzuimpfen versuchte.
Ich hatte die Kraft, allem ein Ende zu machen. Ich wollte sie nur nicht gegen die Menschen einsetzen, die ich liebe. Aber jetzt gibt es keinen anderen Ausweg.
Orïsha wartet auf niemanden.
»Ich denke, wenn ich genügend Geistwandler-Tîtánen um mich versammeln kann, bin ich in der Lage, meine Mutter zu vernichten.«
»Nein.« Tzain nimmt meine Hände. »Es ist zu gefährlich, ihr allein gegenüberzutreten.«
»Wer sonst kann sich ihr stellen?«, frage ich. »Wer sonst kann das Leben aus Inans Adern saugen?«
Ich schließe die Augen und denke über meine Fehler nach. Die ganze Zeit habe ich Vater für ein Ungeheuer gehalten, doch was ist, wenn die Herrschaft über das Königreich ihn gezwungen hat, so zu sein und zu handeln? Krieg ist ein Wettlauf gegen den Tod, und im Moment scheinen Mutter und Inan zu gewinnen.
Ich dränge mich an Tzain vorbei, in die Mitte des Kreises. Es darf nicht noch mehr Blut vergossen werden. Ich muss diesen Krieg beenden, koste es, was es wolle.
Ich hebe die Hand, damit die anderen zuhören. »Ich habe eine Idee.« Doch bevor ich weitersprechen kann, ertönt eine Stimme hinter mir.
»Stopp!«
Alle drehen sich zu ihr um. Zélie kommt vom Turm der Ältesten herübergelaufen. Ihr violetter Kaftan weht im Wind. Immer noch klebt Blut an ihren weißen Locken.
Sie fängt meinen Blick auf, schaut aber schnell weg und wendet sich an die Maji.
»Wir müssen nicht kämpfen!« Sie hebt die Hände. »Es gibt einen anderen Ausweg aus diesem Krieg.«