Kapitel 60
Zélie
Als ich mich darauf vorbereite, zu den Maji zu sprechen, werden meine Handflächen feucht vor Schweiß. Die Ältesten bilden einen Kreis um mich herum. Tzain steht zwischen Amari und mir.
Bei Amaris Anblick wird mein Hals trocken, doch ich behalte ihre Rolle bei dem Angriff für mich. Ich kann mich jetzt nicht mit ihr auseinandersetzen. Uns bleibt nicht viel Zeit.
Ich spüre die Mordlust meiner Leute. Ihre Begierde, sich kopfüber in die Schlacht zu stürzen. Doch was ich von Roën erfahren habe, gibt uns eine Wahl, die wir bis jetzt nicht hatten. Diesmal müssten wir nicht kämpfen. Wir könnten den Krieg ein für alle Mal hinter uns lassen.
»Der König ist nicht in Lagos!«, rufe ich. »Er versteckt sich in Ibadan. Die Monarchie hofft, dass wir auf den Palast marschieren und unsere Truppen sich dort aufreiben. Dann will sie zuschlagen.«
»Was soll das heißen?« Nâo runzelt die Stirn. »Ziehen wir nach Ibadan?«
»Wir dürfen uns nicht ködern lassen«, erwidere ich. »Sondern müssen die Lücke nutzen.«
Ich balle die Fäuste und wappne mich für die Reaktion meiner Leute. Es wäre so viel leichter, einfach zu fliehen. Sich mitten in der Nacht fortzuschleichen. Doch der Gedanke an Mâzeli stärkt mir den Rücken. Er hätte die Maji niemals zurückgelassen.
Auch ich tue das nicht.
»Wenn die Truppen des Königs sich zwischen Ibadan und Lagos aufteilen, gibt es eine Schneise dazwischen«, erkläre ich. »Die könnten wir nutzen, um zur Küste von Ilorin zu marschieren. Um Orïsha auf einem Segelschiff hinter uns zu lassen.«
»Das kann nicht dein Ernst sein!« Nâo ist entsetzt. »Du willst, dass wir fliehen?«
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Ich will, dass wir leben
Mit der Wut, die mir nun entgegenschlägt, habe ich nicht gerechnet.
»Du willst die Monarchie also gewinnen lassen?«
»Dies ist unsere Heimat! Wo sollen wir denn hin?«
»Und was ist mit den übrigen Maji?«
Wie bekomme ich mein Volk dazu, die Wahrheit zu sehen? Zu erkennen, dass es mehr gibt als diese endlose Auseinandersetzung? Warum sollen wir hierbleiben, wenn wir doch wissen, dass wir nicht gewinnen können?
»Ich gehe nicht.« Kenyon tritt vor. »Ist mir egal, dass du deinen Adjutanten verloren hast. Flammentänzer laufen nicht davon.«
»Dann wirst du sterben.« Ich weiche ihm nicht aus, sondern stelle mich seiner Wut entgegen. »Wer weiß, wie viele Cênter die Monarchie noch hat? Nach dem letzten Angriff wissen sie genau, wo sie uns finden!«
»Dann finden sie uns eben!«, schreit Kenyon. Mehrere Maji schließen sich seinem Kampfruf an. »Sollen sie doch herkommen! Sollen sie versuchen, uns gefangen zu nehmen!«
»Weißt du, was dann passiert?«
Ich zerre den Seidenkaftan über meinen Kopf, um allen meinen Rücken zu zeigen. In dem Moment, wo ich meine Narben offenbare, geht ein kollektiver Aufschrei durch die Menge.
Meine Wangen brennen vor Scham, doch ich will mich nicht länger verstecken. Die Maji müssen begreifen, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen ist. In einem Königreich, das in uns Maden sieht, erwartet uns nur weiteres Blutvergießen.
»Unsere Feinde haben keine Ehre«, sage ich. »Sie kennen keine Zurückhaltung. Wenn sie uns finden, werden sie unsere Körper durchlöchern. Sie werden uns von innen zerstören.« Als ich den Kaftan wieder herunterziehe, entdecke ich Mári und Bimpe zwischen den anderen. Ihr Anblick verleiht mir neue Kraft.
»Ich habe geschworen, meinen Clan zu schützen. Jetzt ist die beste Gelegenheit, das zu tun. Ich kann nicht mehr kämpfen.« Kapitulierend hebe ich die Hände. »Ich kann nicht mehr Menschen verlieren, die ich liebe.«
Viele lassen den Kopf hängen. Kurz ist der gesamte Berg still. Selbst Kenyon zieht sich zurück und stellt sich wieder zu den anderen Ältesten.
»Aber das hier ist unsere Heimat!« Kâmarū tritt vor. Seine tiefe Stimme ist nur ein Flüstern. Er zeigt uns allen sein gebrochenes Herz und spricht den Schmerz aus, dem sich keiner von uns stellen mag.
»Als die Ältesten diesen Ort gebaut haben, waren hier nur nackte Berge.« Ich sehe mich um. »Das Sanktuar ist nicht unsere Heimat geworden, weil sie Türme errichtet haben. Es wurde unsere Heimat, weil sie alles gemeinsam gebaut haben. Das Land selbst, die Tempel – sie sind nicht so wichtig. Solange wir uns haben, tragen wir Orïsha in unserem Blut. Das kann uns niemand nehmen.«
Mit angehaltenem Atem warte ich auf die Reaktion der Ältesten. Die Maji beginnen, miteinander zu flüstern. Ich spüre, dass ich sie fast überzeugt habe.
Da tritt Amari vor. Ihr Gesicht leuchtet vor Begeisterung.
»Zélie hat recht!« Ihre Stimme hallt durch die Stille. »Dies könnte unsere einzige Möglichkeit sein zu fliehen. Aber es könnte auch unsere einzige Möglichkeit sein zu siegen.«
»Was soll das?« Ich packe sie am Arm und drehe sie zu mir herum. Bei ihrem Anblick erbebt mein Körper, doch ich halte ihrem Blick stand.
»Lass das!« Ich verstärke meinen Griff. »Bitte!«
Amari presst die Lippen zu einem Strich zusammen. Sie senkt den Blick auf meine Hand, atmet tief durch und schließt die Augen.
»Es tut mir leid, aber ich kann meine Heimat nicht kampflos aufgeben.«
»Nein, Amari!« Ich umklammere sie. »Das Blutvergießen muss ein Ende haben!«
Sie entwindet sich mir. Als sie sich zu den Maji umdreht, hängt der gesamte Berg an ihren Lippen.
»Jetzt sind wir im Vorteil«, ruft sie. »Wir kennen ihre Tricks und können ihnen ausweichen! Wir müssen nicht nach Lagos marschieren und die gesamte Armee ausschalten. Wir müssen nur den König in die Hände kriegen!«
Sie steigert sich so in ihre Idee hinein, dass ihre Wörter ineinander übergehen. Sie genießt die Aufmerksamkeit der Zuhörer. Fast kann ich eine Krone in ihren Locken glitzern sehen.
»Warum sollen wir weglaufen?« Sie wirft die Hände hoch. »Warum sollen wir Risiken eingehen, die das Unbekannte birgt, wenn wir den Tod von Mâzeli rächen und für unsere Heimat kämpfen können?«
Vor meinen Augen wendet Amari das Blatt zu ihren Gunsten. Mein Körper wird taub. Die Stimmen werden lauter. Selbst meine Seelenfänger fallen in Amaris Ruf nach Rache ein.
»Erheben wir uns!« Sie reckt die Faust in die Luft. »Tun wir uns zusammen und beenden diesen Krieg! Zusammen können wir gewinnen! Gba nkán wa padà! «
Das Yoruba klingt aufgesetzt, aber erfüllt seinen Zweck. Der Ruf wandert von einem Maji zum nächsten, bis der ganze Berg dröhnt.
»Gba nkàn wa padà! Gba nkàn wa padà!«
Ich lasse mich auf den Blutstein sinken. In meinen Ohren tobt der Krieg.
Gba nkàn wa padà!
Wir holen uns zurück, was uns gehört.