Kapitel 62
Amari
Innerhalb weniger Stunden hallen Musik und Gelächter durch die Gemäuer des Sanktuars. Palmwein fließt in Strömen. Na’imahs kräftige Stimme schmettert Melodien im Speisesaal. Vor mich hinlächelnd lehne ich mich gegen einen Tisch und betrachte die Maji auf der Tanzfläche. Ich atme so tief ein, dass ich fast den süßen Duft der Hoffnung in der Luft schmecken kann.
»Komm!« Nâo stößt mich an. Sie strahlt geradezu in ihrem langen blauen Kleid. »Das ist deine Feier, um der guten Götter willen! Nimm dir einen Becher Wein!«
Sie schnippt mit den Fingern, und ein Erzbrecher lässt einen Zinnbecher in meine Hände schweben. Wir stoßen an, und Nâo legt den Arm um meine Schultern.
»Auf den Sieg!«, ruft sie.
»Auf den Sieg!«, wiederhole ich und trinke einen Schluck. Das Wort klingt herrlich auf meiner Zunge.
»Wenn ich dich als Königin unterstützen soll, musst du aber öfter solche Feste geben.«
Sie neckt mich zwar, dennoch bin ich überrascht. Bisher war immer Zélie diejenige, die alle auf dem Thron sehen wollten.
»Na’imah!«
Ein lauter Schrei schallt durch den Saal. Die Musik verstummt. Kampfbereit stürze ich nach vorn, doch schon arbeitet sich Kenyon durch die Menge. Seine Rastalocken fallen ihm auf die nackte Brust. Vor der Bühne sackt er auf die Knie.
»Na’imah, ich liebe dich!«
»Um der Götter willen!« Na’imah schlägt die Hände vors Gesicht. Rings um sie herum kichern alle. »Kenyon, du bist betrunken!«
»Ja, aber es stimmt trotzdem!«
»Mo fi àwon òrìsà búra …« Na’imah springt von der Bühne, die Musik spielt weiter. Die Zähmerin will mit Kenyon schimpfen, doch er zieht einen zerknickten Strauß Sonnenblumen aus seinem Gürtel. Ungewollt muss sie lächeln.
Nâo wirft den Kopf in den Nacken und lacht. »Du machst deine Sache gut«, sagt sie. »Amüsiere dich!«
Ich warte, bis sie gegangen ist, ehe ich meinen Becher absetze. Vater hat vor einem Kampf nie getrunken. Ich tue das auch nicht. Als ich durch die Menge gehe, kommen Erinnerungen an ihn auf. Ich frage mich, ob er stolz auf das wäre, was ich getan habe. Auf die Anführerin, die ich geworden bin.
»Ich spüre etwas …«
Ich sehe, dass sich in einem bunten Zelt mehrere Maji um Mama Agba geschart haben, und bleibe stehen. Hinter ihr lässt Folake blitzende Lichter entstehen. Mama Agba hebt den Kopf und mustert mit zusammengekniffenen Augen ihre Zuschauer. Die Maji um sie herum lächeln.
»Ich spüre, dass eine große, mächtige Älteste sich nähert!«
Aller Blicke fallen auf mich. Meine Wangen beginnen zu brennen. Ich will weitergehen, doch die anderen drängen mich in Mama Agbas Zelt.
»Komm, Älteste Amari!« Sie nimmt meine Hand in ihre Hände. »Lass mich sehen, was die Sterne mit dir im Sinn haben!«
Als Mama Agba sich schüttelt wie die falschen Propheten in den Straßen von Lagos, kann ich mir das Lachen nicht verkneifen. In großen Schwüngen malen ihre Hände Kreise rund um Folakes bunte Sterne. Mama Agba tut jedoch nur so, als würde sie eine Beschwörung durchführen. In ihrem Alter wäre das so anstrengend, dass sie ihre Gesundheit aufs Spiel setzen würde.
»Vor dir liegen große Schlachten.« Sie nickt mir zu. »Und große Siege! Und, oha … da sehe ich noch etwas!«
»Was denn, Mama Agba?«, ruft ein Divîné.
»Sag schon!«, spiele ich mit.
»Ich sehe … große Liebe.«
Sie zwinkert mir zu, da nähert sich mir jemand von hinten. Als ich mich umdrehe, raubt mir Tzains Lächeln den Atem. Er nimmt meine Hand und führt mich von den anderen fort. Sie johlen uns nach. Auf dem Weg zur Tanzfläche schmachtet uns Na’imahs gefühlvolle Stimme entgegen.
»ãòrùn mi, ìfé mi, èmí mi …«
Khani fällt in die Melodie der Zähmerin ein. Zusammen klingen die beiden wie Singvögel. Tzain verschränkt seine Finger mit meinen, und wir wiegen uns auf der Tanzfläche, verlieren uns im Lied. Ich lege den Kopf an seine Brust, lasse mich in die Wärme seiner Arme fallen.
»Das hat mir gefehlt.« Tzain senkt den Kopf und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel. Er legt die Hände um meine Taille, und es kribbelt am ganzen Körper, als seine Daumen meine nackte Haut streifen.
»Mir auch«, flüstere ich und schließe die Augen. Mit ihm zu tanzen trägt mich zurück zu den Feldern auf dem großen Fest der Divînés. Damals glaubten wir noch, die Zukunft gehöre uns.
Ich schaue ihn an, und er betrachtet mich mit einer Zärtlichkeit, die ich nicht verdient habe. Da wird mir klar, dass ich diesen Abend nicht mit Prophezeiungen und Palmwein verbringen will. Heute Abend will ich Tzain.
»Was ist?«, fragt er.
Ich spiele mit seinen Fingern und ziehe ihn in Richtung Tür.
»Komm mit an die frische Luft.«
»Du hast doch von frischer Luft gesprochen …«, sagt Tzain lachend, als ich die Tür zu meinem Zimmer aufdrücke. Grinsend nehme ich seine Hand und trete in die kühle Brise auf dem Balkon. Wir schieben die Beine durch die Stäbe und lassen sie baumeln. Beim Blick auf das Sanktuar sackt etwas in meiner Brust zusammen.
»Dieser Ort wird mir fehlen.« Es ist seltsam, das nach allem zuzugeben, was innerhalb dieser Mauern geschehen ist. Ich weiß nicht, ob es seit unserer Ankunft hier einen Moment gab, in dem ich mich nicht ausgegrenzt fühlte. Doch so viel auch schiefgegangen sein mag – dieser Ort war meine Heimat. Er hat uns geschützt. Hier habe ich meine Stimme gefunden. Und den Weg zum Thron.
»Es ist so viel …« Tzain hält sich die Hand vor den Mund und hustet. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich stolz auf dich bin. Ich glaube, das hörst du nicht besonders oft.«
Ohne richtig nachzudenken, greife ich nach Tzains Kopf und ziehe ihn zu mir heran.
»Autsch!« Sein Kinn stößt gegen meinen Nasenrücken.
Tzain bricht in Lachen aus. »Bei den Himmeln! Ich hätte euch gar nicht für so wild gehalten, meine Königin!«
Ich bekomme heiße Ohren. »Sei leise!« Spielerisch schlage ich ihm auf den Arm. »Wie soll ich in den Kampf ziehen, wenn ich nicht mal einen armseligen Kuss hinkriege?«
Tzain legt die Hand auf meine Schulter und zieht mich an sich. »So«, murmelt er. »Ich zeige es dir.«
Als sich unsere Lippen treffen, umarme ich ihn noch fester. Ich lasse mich fallen, schmecke den süßen Palmwein in seinem Mund. Doch als er mir mit den Händen durch die Haare fährt, regen sich Schuldgefühle tief in mir. Während wir uns hier vergnügen, sitzt Zélie wahrscheinlich einige Stockwerke höher untröstlich und allein.
»Bist du noch da?«, fragt Tzain und löst sich von mir. Ich blinzele.
Um ihm nicht in die Augen zu schauen, betaste ich ein Loch in seinem Oberteil. »Glaubst du, Zélie wird mir je verzeihen?«
»Könntest du bitte versuchen, nicht an meine Schwester zu denken, wenn sich unsere Lippen berühren?« Tzain streicht mir über die Wange.
Ich lächele. »Tut mir leid. Es ist nur furchtbar zu wissen, wie sehr ich sie verletzt habe.«
»Sie braucht Zeit.« Tzain seufzt. »Und Raum. Du machst alles richtig. Nicht für sie, sondern für Orïsha. Das Königreich, das du aufbauen wirst … dafür muss man kämpfen, auch wenn sie es nicht mehr kann.«
Er nimmt meine Hand, und die gesamte Welt verschwindet. Wieder treffen sich unsere Lippen, und mein Magen flattert. Tzains Bartstoppeln kratzen mir übers Kinn, ich schmiege mich an ihn. Wie oft habe ich mir diesen Moment vorgestellt! Hier mit ihm allein zu sein. Mit rasendem Herzen schiebe ich die Hände unter den Saum seines Hemds. Da hält er meine Handgelenke fest.
»Mache ich etwas falsch?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf, den Blick nach unten gerichtet. »Ich möchte nur nicht, dass du das tust, weil du Angst hast.«
»Angst wovor?« Ich entziehe ihm meine Hand.
»Vor dem Tod.«
Er sieht zur Seite. Ich atme aus. Das Wort ist wie eine Flutwelle, die alles hinfort schwemmt. Die bevorstehende Schlacht sickert wie Gift in die Luft um uns herum.
»Entschuldigung.« Er kneift sich in die Nasenwurzel. »Ich wollte die Situation nicht kaputtmachen. Ich will nur nicht, dass du es aus den falschen Gründen tust. Dafür bist du mir zu wichtig.«
»Du musst dich nicht entschuldigen.« Mein Herz geht mir auf, ich drücke die Nase an Tzains Wange. »Aber du irrst dich. Ich habe keine Angst. Jedenfalls im Moment nicht.«
Er neigt den Kopf zur Seite. Ich lege die Hände auf seine Wangen und schaue in seine warmen braunen Augen. Ich denke an alles, was wir erlebt haben, seit wir uns kennenlernten. Wie er für mich gekämpft hat, als ich nur eine Prinzessin war.
»Tzain, ich will nicht mit dir zusammen sein, weil ich Angst vor dem Tod habe. Ich will mit dir zusammen sein, weil ich dich liebe.« Ich lächele. »Kommt mir vor, als war das schon immer so.«
Mit einem Mut, der sich fremd anfühlt, stelle ich mich hin. Mit zitternden Fingern ziehe ich mein Hemd aus und öffne das Band meines Rocks. Beides fällt zu Boden, und Tzain sieht mich mit großen Augen an.
»Sag das noch mal!«, verlangt er.
»Was?«
»Dass du mich liebst.« Er steht ebenfalls auf. »Wiederhole es!«
Ich lächele so breit, dass mir die Wangen weh tun.
»Ich liebe dich.«
»Noch mal.«
»Ich liebe dich.«
»Ich glaube, das habe ich nicht richtig verstand–«
»Tzain, ich liebe dich!«, bringe ich lachend hervor, als er mich hochhebt. Es ist, als würde ich schweben. Er trägt mich ins Zimmer, legt mich aufs Bett und übersät mich mit Küssen. Meine Hemmungen lösen sich auf.
»Ich liebe dich auch.« Bei jedem Wort berühren mich seine Lippen.
Ich hoffe, dass es niemals endet.