Kapitel 63
Zélie
Als ich vor den Türen zum Speisesaal stehe, frage ich mich, warum ich überhaupt hergekommen bin. Drinnen wird getrunken und gesungen. In Anbetracht von Mâzelis Tod kommt mir das unangebracht vor.
Überall höre ich sein Lachen. Ungewollt stelle ich mir vor, wie er sich auf der Tanzfläche bewegen würde. Er hat sich immer gefreut, wenn jemand Sújà gekocht hatte. Wenn er jetzt hier wäre, würde er wahrscheinlich zu viel davon essen und sich übergeben.
Sei nicht traurig.
Ich schließe die Augen und wünsche mir, seinen Rat annehmen zu können. Er würde wollen, dass ich hineingehe. Er würde mir einen Becher Palmwein reichen. Wir würden lachen und tanzen, und er würde von seiner Zukunft als größter Seelenfänger aller Zeiten schwärmen. Er hatte keine Ahnung, wie großartig er bereits war.
»Du solltest mitfeiern«, ertönt hinter mir die Stimme von Mama Agba.
Ich erstarre. Als sich das Geräusch ihres Stocks nähert, schnürt sich mir die Kehle zu. Seit dem Tag auf der Krankenstation habe ich sie nicht mehr gesehen. Auch jetzt will ich nicht mit ihr reden.
»Wenn schon nicht dir selbst zuliebe, dann für deine
Seelenfänger.« Ihre Stimmt ist heiser. »Sie sind immer noch da, Zélie. Du musst für sie kämpfen.«
Als ich nicht reagiere, stellt sich Mama Agba mir in den Weg. Ich muss den Kopf abwenden, kann ihr immer noch nicht in die Augen sehen.
»Können wir sprechen?«, fragt sie mit bebender Stimme. »Im Garten ist eine besondere Bank dafür.«
»Es ist mir egal, was du zu sagen hast.«
»Zélie, es tut mir so leid!« Tränen laufen über ihre faltigen Wangen. Ich kann es nur schwer ertragen, ihre Schmerzen zu sehen. Wie gerne würde ich sie ihr nehmen!
»Er war nicht zu retten«, sagt sie flehentlich. »Ohne dieses Opfer wärt ihr beide gestorben. Du musst verstehen …«
»Das weiß ich.« Ich trete einen Schritt zurück. »Ich weiß, warum du so gehandelt hast. Trotzdem spüre ich, dass ich ihn hätte retten können. Ich kann dir nicht verzeihen, dass du mich dieser Möglichkeit beraubt hast.«
»Bitte, Zélie …«
Ich drehe ihr den Rücken zu und ignoriere die Enge in meiner Brust.
»Es wäre besser gewesen, wenn ich
an dem Tag gestorben wäre«, sage ich. »Tu einfach so, als wäre ich es.«
Mama Agbas Schluchzen trifft mich ins Herz. So habe ich sie noch nie weinen hören.
Fast fliehe ich vor ihren Tränen die Treppe hoch zu meinem Zimmer. Es zu verlassen war ein Fehler. Ich habe hier nichts zu suchen.
»Du bist zurück.«
Ich schaue auf. Roën sitzt vor meinem Zimmer im Gang. Er hat zwei große Säcke über der Schulter. Sie klirren, als er sich erhebt und mich anweist, den kleineren zu nehmen.
»Komm!«
Ich verdrehe die Augen und dränge mich an ihm vorbei. »Ich gehe ins Bett.«
»Nein, tust du nicht.« Er folgt mir ins Zimmer. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Bitte, Roën, nicht heute«, flehe ich.
»Wie? Du kannst mich um Hilfe bitten, wann immer du willst, aber sobald ich mal etwas brauche, bist du zu müde?«
Ich sehe ihn wütend an.
Er grinst. »Eben!«
Ich runzele die Stirn, als er mir den kleineren Sack umhängt. »Verrätst du mir wenigstens, wohin es geht?«
»Weißt du, was Zïtsōl in meiner Sprache bedeutet?« Er zieht den Riemen des Rucksacks enger und marschiert los. »Schönes Mädchen, das zu viele Fragen stellt.«
Auf dem Rücken von Roëns Gepardesse verstreichen die Stunden, ohne dass wir miteinander sprechen. Zuerst lassen wir die Schwüle des Dschungels hinter uns, dann die gebirgige Gegend. Wir galoppieren vom Sanktuar aus nördlich über die Opeoluwa-Ebene. Ich lege das Kinn auf Roëns Schulter und recke das Gesicht in den beißenden Wind.
»Erklärst du mir bitte, was wir hier tun?«, rufe ich.
»Du musst nicht immer alles wissen«, schreit er zurück.
»Ist es wenigstens nichts Verbotenes?«
»Zïtsōl, so viele dumme Fragen stelle ich dir nie.«
Ich verdrehe die Augen und drücke das Gesicht an seinen Rücken. Egal. Es ist nicht wichtig.
Je weiter wir uns vom Sanktuar entfernen, desto besser kann
ich atmen. Mâzelis Fehlen erstickt nicht mehr jeden Atemzug. Jenseits der Mauern kann ich auch an etwas anderes als seinen Tod denken.
Allmählich bin ich dankbar für die Ablenkung. Ich weiß nicht, wann ich noch einmal eine Atempause bekomme. Ich frage mich, ob Roën immer so ist, so frei von den Lasten der Welt. Frei von allem, das er verloren hat.
»Da wären wir.« Roën zieht an den Zügeln der Gepardesse.
Ich schaue auf. Wir stehen an einem schmalen Küstenstreifen, nur wenige Meter von einem zerklüfteten Ufer entfernt. Schwarze Wellen krachen gegen die flachen Klippen, schäumen über die glatten, glasigen Felsen. Ein silberner Mond wirft sein Licht auf das schäumende Wasser und lockt mich hinein.
»Was machen wir?«
Roën nimmt beide Rucksäcke und geht im Mondschein ans Ufer. Ein windbetriebenes Boot mit allerlei Zubehör liegt dort vor Anker.
»Wie weit fahren wir?«
»Schon wieder eine Frage.« Roën schnalzt mit der Zunge. »Das ist nicht wichtig. Steig ein!«
Auch wenn ich ihm nicht vertraue, ist die Aussicht auf eine Bootsfahrt zu spannend, um mich zu weigern. Als ich das letzte Mal am Meer war, flohen wir aus der Wüste von Zaria. Ich kann es nicht erwarten, auf dem unruhigen Wasser zu treiben. Innerhalb kurzer Zeit segeln wir los. Das Surren des Bootes vermischt sich mit dem Rauschen der Wellen. Ich schließe die Augen und atme die salzige Luft ein. Ich hatte vergessen, wie sehr mir das Meer gefehlt hat. Wie nah ich mich Baba dort immer fühle.
Roën fährt hinaus, bis die Küste nur noch ein Streifen am Horizont ist. Irgendwann kommt die Windturbine stotternd zum
Stehen. Roën wirft den Anker über Bord, dann zieht er sein Hemd aus und schlüpft aus seiner Hose.
»Ist das ein Vorwand, damit ich mich ausziehe?«, frage ich.
»Zïtsōl, wir wissen doch beide, dass ich dafür keinen Vorwand brauche.«
Roën öffnet den kleineren der beiden Säcke und zieht zwei seltsame Masken heraus. Währenddessen steige ich aus meinem Hemd und behalte nur das Tuch darunter um die Brust gebunden.
»Hör gut zu!« Roën setzt mir eine Maske auf. »Nimm das Mundstück! Atme ein. Halt meine Hand fest!«
Ich warte, während er die Gurte festzieht. Meine Zunge betastet das eingebaute Mundstück. Es dauert ein wenig, bis der Sauerstoff hindurchfließt. Die verbrauchte Luft darin kratzt mir im Hals.
»Mach mir alles ganz genau nach«, sagt Roën. »Wir haben keine Zeit zum Nachdenken.«
Bevor ich auch nur eine einzige Frage stellen kann, hat er die zweite Maske aufgesetzt. Mit einem Ächzen wirft Roën den größeren Sack über Bord und streckt die Hand nach mir aus. Ich greife zu und springe mit ihm ins Wasser.
Als der Ozean über mir zusammenschlägt, beiße ich die Zähne aufeinander. Es ist, als würde man durch eine Eisschicht brechen. Im Wasser um uns herum steigen Blasen auf. Ich drücke Roëns Hand; wir lassen uns vom Gewicht seines Rucksacks nach unten ziehen.
Irgendwann werden wir langsamer und treiben einfach in der Schwärze. Ich halte die Luft an. Roën legt meine Hand an die rostige Kette, die uns mit dem Boot oben verbindet. So, wie er meine Finger darum drückt, höre ich fast, was er sagen will: Halt fest!
Ich umklammere die Ankerkette, und mein Atem wird langsamer. Hier unten herrscht ein seltsamer Frieden. Ich genieße ihn. Roën streift meine Seite, macht sich am großen Rucksack zu schaffen. Er öffnet ihn, und ich muss die Augen zusammenkneifen, so hell wird es. Aus dem Rucksack schweben Lichtkugeln, die durch ein feines Kettengewebe miteinander verbunden sind.
Was ist das?
Ich lege den Kopf schräg. Die Kugeln verteilen sich über unseren Köpfen und erleuchten die Dunkelheit. Das Netz von Lichtern erweckt den Ozean zum Leben. Fast traue ich meinen Augen nicht. Ein Schauder durchfährt mich wie beim ersten Mal, als ich Mamas Magie sah.
Überall sind Fische. Lange Aale mit silbernen Schuppen zischen unter uns dahin. Krabben mit metallisch glänzender Schale klettern auf den Korallenriffen herum. Eine große Meeresschildkröte schwimmt über uns, so nah, dass sie Roëns Haare berührt. Mit stockendem Atem berühre ich das schimmernde Muster auf ihrem Panzer.
Die Schildkröte gleitet auf die Lichter zu und gesellt sich zu den Tausenden von Fischen, die jetzt über unseren Köpfen kreisen. Der Anblick ist so eindrucksvoll, dass ich fast die verrostete Ankerkette loslasse. Ich hatte nicht geahnt, dass es im Wasser so schön sein kann.
Ich versuche, Roëns Blick aufzufangen, doch er sieht in die Ferne. Ohne jede Vorwarnung setzt er sich in Bewegung und zieht einen Bogen aus seinem Rucksack, in den statt eines Pfeils ein flacher Haken gespannt ist.
Was hat er vor?
Ich lasse mich näher zu Roën treiben und versuche zu verstehen, was er da macht. Er packt mich am Handgelenk und bringt uns mit Fußschlägen weiter nach unten in die Schwärze.
In der Ferne scheint ein Licht, das allmählich heller wird. Nein, erkenne ich dann. Es wird nicht heller, sondern größer, weil es auf uns zugerast kommt.
Ich will weg, doch Roën zwingt mich zu bleiben. Es fällt mir schwer, die Ruhe zu bewahren, als er den Bogen an die Schulter setzt und zielt. Das Ungeheuer zischt heran wie eine Kanonenkugel, so groß, dass sich die Strömung ändert. Um uns herum wird es gleißend hell. Mein Herz schlägt zum Zerspringen.
Um der Liebe Oyas willen!
Ein Blauwal schießt über uns hinweg, so groß, dass ich ihn gar nicht vollständig erfassen kann. Meine Brust zieht sich zusammen. Der Anblick ist so umwerfend, dass ich zu atmen vergesse.
Das gewaltige Tier versperrt unseren Blick. Es glüht wie das lumineszierende Plankton an der Küste von Jimeta. Das Licht erstreckt sich von seiner Nasenspitze bis zur Schwanzflosse. Es ist, als würde auf seiner glatten Haut die Nacht selbst leuchten.
Das wilde Tier öffnet sein Maul. Es saugt einen Tornado von Fischen an, verschlingt mit einem Happen Tausende. Dann steigt es auf.
Halt fest!
Ich spüre durch Roëns Griff, was er mir sagen will. Er legt mir einen Arm um die Taille, ich schlinge beide Arme um ihn. Mit einem Ruck betätigt er den Abzug, und der flache Haken saust durchs Wasser. Unterhalb der riesigen Flosse des Wals schlägt er ein. Wir können kaum nachdenken, da reißen uns die daran befestigten Seile auch schon durchs Wasser.
Jeder Knochen in meinem Körper wird durchgeschüttelt. Es ist, als würden wir von tausend Elefantessen gezogen. Das Wasser schlägt uns entgegen, mit unvorstellbarer
Geschwindigkeit rasen wir durchs Meer. Das Leuchten des Wals erhellt den Ozean wie die Sonne, stärker als es ein ganzer Wald von Laternen vermöchte.
Vorbei an riesengroßen Rochen. Regenbogenfarbene Schuppen knistern wie Blitze auf dem Wasser. Es fühlt sich an wie im Traum; ein Traum, der nie aufhören soll.
Als wir die Wasseroberfläche durchbrechen, röchele ich. Der Wal springt. Er beschreibt einen so großen Bogen in der Luft, dass der Mond nicht mehr zu sehen ist.
Roën hält mich fest und lässt das Seil los. Das wilde Tier dreht sich noch mal im Kreis, dann lässt es sich wieder nach unten sinken.
Halt fest!
»Achtung!«, ruft Roën, um das Rauschen zu übertönen.
Wie ein Tsunami schlagen die Wellen über uns zusammen. Wir werden hin und her geworfen, aber ich klammere mich fest an Roën. Es scheint Minuten zu dauern, bis das Meer wieder sanft schaukelt.
Als sich das Wasser beruhigt hat, entdecke ich unser Boot in einem halben Kilometer Entfernung.
Mit zitternden Händen reiße ich mir die Maske vom Kopf und keuche. Ein Lachen entringt sich mir. Ich fasse mir an die Brust und schlage mit den Beinen, um mich an der Oberfläche zu halten. Das ersterbende Licht des Wals lässt das Meer noch länger leuchten. Ich starre nach unten, bis es verschwindet und uns im dunklen Wasser zurücklässt.
»Das war unglaublich!«, rufe ich. »Das war das Unglaublichste, was ich je erlebt habe!«
Roën grinst. »Das sagen meine Geliebten anschließend immer.«
Ich spritze ihm Wasser ins Gesicht. Er lacht aus vollem Hals
und verzieht die Nase. Überrascht stelle ich fest, dass er Ähnlichkeit mit jemand anderem hat.
»Warum hast du das gemacht?«, frage ich.
Sein Lächeln wird weicher. Er lässt sich zu mir treiben und streicht mir über die Wange.
»Deshalb.« Seine Finger verharren in meinen Mundwinkeln. »Weil es viel zu lange her ist, dass ich dein Lächeln gesehen habe.«