Kapitel 64
Inan
Ich schaue auf die Landkarten und Schlachtpläne auf unserem Tisch. Allmählich kommt die Realität bei mir an. Es ist zwar nur schwarze Tinte auf Pergament, doch auf diesen Karten finden wir unseren Weg zum Sieg. Unsere Truppen sind außerhalb von Lagos stationiert. Mutter und ich sind in Sicherheit. Alle Fallen sind aufgestellt.
Diesmal werden wir gewinnen.
»Sind die Marschbefehle klar?«
Da ich schweige, übernimmt Mutter die Führung. Ihre tiefe Stimme hallt durch die pyramidenförmige Ahéré außerhalb des Zentrums von Ibadan. Die Lehmwände schützen den Stein vor der kalten Bergluft. Ich schaue ins lodernde Feuer im hinteren Teil des Raums. Die Offiziere nicken.
»Das ist erst mal alles.« Ich winke ab. »Sagt Bescheid, wenn es vorwärtsgeht.«
Als sie sich salutierend verabschieden, gehe ich zur Feuerstelle. Die Hitze der Flammen wärmt meine Haut. Ich warte darauf, dass ich eine gewisse Befriedigung verspüre, eine Art Erleichterung. Doch wie lange ich auch warte, ich fühle mich einfach taub. Schwer zu glauben, dass dies wirklich das Ende ist.
»Ich sollte nicht hier sein.« Ojore kommt zu mir, als der letzte Offizier verschwunden ist. »Schick mich zurück nach Lagos. Damit ich für dich vor Ort bin.«
»Dort ist für alles gesorgt«, erwidere ich. »Ich brauche dich hier.«
»Inan, es ist nicht deine Aufgabe, mich zu schützen!«
»Nach dem, was mit Jokôye passiert ist, schon!« Ich schnelle herum und sehe ihn mit geweiteten Nasenflügeln an. »Orïsha wird dich brauchen, wenn alles vorbei ist. Ich auch.«
Mutter legt Ojore eine Hand auf die Schulter, um die Anspannung zwischen uns zu lösen. »Es ist noch viel zu tun. Sprich dich mit den Wachleuten draußen ab, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung ist.«
Ojore pustet die Luft aus, aber ringt sich ein Nicken ab und marschiert nach draußen in die Nacht. Wenn ich doch auch so darauf brennen würde zu kämpfen wie er.
Ich kann unsere Schlachtpläne nicht betrachten, ohne an Zélie und Amari zu denken. So will ich sie nicht schlagen. Wer weiß, ob sie das überleben?
»Dieser Junge …« Kopfschüttelnd lächelt Mutter in sich hinein. Sie reicht mir einen Becher Rotwein und hält mir ihren zum Anstoßen hin. »Auf den Thron!«
Unsere Gläser klirren aneinander, Mutter trinkt einen großen Schluck. Dann atmet sie tief aus.
»Du hast dich richtig entschieden«, sagt sie.
Seufzend drehe ich mich zu den knisternden Flammen um. »Fühlt sich nicht so an.«
»Kein Preis ist zu hoch, wenn danach endlich Schluss mit dem Krieg ist.«
Darauf trinke auch ich. Ich genieße den vollmundigen Geschmack. »Es fühlt sich an, als würde dieser Krieg schon Jahre dauern.«
»Tut er ja gewissermaßen auch.«
Mutter fährt mit ihrem lackierten Finger über den Becherrand. Sie schaut aus dem Fenster auf die Familien, die am Dorfbrunnen Schlange stehen.
»Dieser Krieg ist nicht erst ausgebrochen, als die Magie zurückkam, Inan. Du siehst nur das Ende einer Auseinandersetzung, für die schon Unzählige ihr Leben gelassen haben. Wenn der Winter kommt, werden wir die Maji von der Oberfläche des Landes getilgt haben. Das hat selbst dein erbärmlicher Vater nicht geschafft.«
»Mutter, wovon redest du da?« Ich greife nach ihrem Arm. »Wir kämpfen gegen die Iyika. Nicht gegen die Maji.«
»Nein, wir kämpfen gegen alle! Und zwar seit Jahrzehnten. Dieser Krieg hat schon lange vor der Blutnacht begonnen. Schon lange vor deiner Geburt.«
Mutter stellt ihren Becher ab und nimmt meine Hände in ihre. Ihre Tonlage macht mich nervös. Das Leuchten in ihren bernsteinfarbenen Augen gefällt mir nicht.
»Hat dein Vater dir mal erzählt, wie kurz davor die Monarchie war, sich mit den Maji-Clans zu vereinen?«
Bei der Erinnerung an unser Gespräch auf dem Kriegsschiff, bevor wir die heilige Insel erreichten, nicke ich. So nah wie dort habe ich mich meinem Vater nie wieder gefühlt. Es war das einzige Mal, dass er sich seiner Pflichten als König nicht sicher war.
»Eine Beteiligung der Maji hätte alles geändert«, zischt Mutter. »In null Komma nichts hätten sich die Maden des Throns bemächtigt. Dieser Kreuzzug begann in dem Moment, als mir klarwurde, dass ich allein sie aufhalten kann.«
»Wen aufhalten?«, frage ich vorsichtig. Wovon redet sie, um der Himmel willen? »Der König wurde von Flammentänzern ermordet. Sie sind schuld daran, dass es nie zur Einheit kam.«
Ich erwarte, dass sie ihren Fehler berichtigt, doch sie hält meinem Blick stand. »Der Thron musste geschützt werden, Inan. Egal, zu welchem Preis.«
Als es mir dämmert, entziehe ich ihr meine Hände und reiße die Augen auf.
»Du hast diesen Angriff ausgelöst?«, flüstere ich. »Du hast all diese Menschen getötet?«
»Ich habe diesen Flammentänzern nicht gesagt, was sie tun sollen.« Mutter greift nach mir. »Ich habe unseren Leuten nur gezeigt, was passieren würde, wenn wir den Maden erlauben, den Palast zu betreten …«
Ich halte mir die Ohren zu, versuche, das Gift aus ihrem Mund nicht zu hören. Der Raum beginnt sich zu drehen. Meine Finger werden taub.
Die Rebellen hatten den Palast damals fast niedergebrannt. Vater war das einzige Mitglied der Königsfamilie, das überlebte. Ohne diese Ereignisse wäre er niemals König geworden.
Er hätte sich nicht mit der Blutnacht gerächt.
Es hätte funktionieren können. Es hätte geklappt. Man hätte einen besseren Weg finden können.
Doch Mutter zerstörte diese Möglichkeit.
Sie ist der Grund, warum wir uns bis heute bekriegen.
»Die Flammentänzer haben einen Krieg begonnen!« Ich schiebe meinen Stuhl nach hinten und springe auf. »Einen Krieg, den wir bis heute kämpfen! Tausende haben dafür ihr Leben gelassen! Wie kannst du damit bloß leben?«
»Schrei nicht so!« Wieder greift Mutter nach meinem Arm. Ich zucke zurück und suche Reue in ihrem Gesicht. Ein klein wenig Bedauern.
Doch ich sehe nichts.
»Das ganze Blut an deinen Händen …« Ich greife mir an den Bauch, wo meine Narbe pocht. »Um der Himmel willen, Ojore war an dem Tag auch dabei! Er musste mit eigenen Augen zusehen, wie seine Eltern verbrannten!«
»Diese Menschen haben ihr Leben gegeben, damit das wahre Orïsha weiter bestehen konnte.« Mutter reckt die Faust. »Wenn unser Königreich die Maji endlich los ist, wird es kein Leid mehr geben. Keinen Krieg mehr. Du wirst als König dafür sorgen, dass die Opfer nicht umsonst waren!«
Sie legt mir die zitternden Hände auf die Wangen und lächelt.
»Vergiss nicht, was ich gesagt habe. Kein Preis ist zu hoch, wenn die Maji endlich besiegt sind.«