Kapitel 66
Amari
Warme Sonnenstrahlen auf meinem Rücken locken mich aus dem Schlaf. Ich murmele Tzains Namen und taste nach ihm. Dann reibe ich mir die Augen und sehe mich suchend um. Ich rechne damit, die gefliesten Wände meines Ältestengemachs zu sehen, in dem ich die Nacht mit Tzain verbracht habe. Doch es ist, als hätte man mich in der Nacht entführt.
Um mich herum ist nichts als Schilf.
»Was um der Himmel willen …«
Meine Hände betasten die Schilfrohre, die fedrigen Blätter kitzeln meine Finger. Dazwischen sprießen schlanke Narzissen, gelbe Farbtupfer im endlosen Feld.
Ich verstehe nicht, wo ich bin. Für einen Traum fühlt es sich viel zu real an. Plötzlich spüre ich die Gegenwart eines anderen.
Als ich eine Stimme höre, stockt mir das Herz.
»Wir müssen reden.«
Bei Inans Anblick ist mir, als würde mir eine Faust in den Magen schlagen. Als er kapitulierend die Arme hebt und die braunen Lippen fragend verzieht, verschlägt es mir den Atem.
»Es war Mutter«, sagt er mit bebender Stimme. »Wenn du wüsstest, was sie getan hat, Amari …«
»Und was ist mit dem, was du getan hast?« Ich rappele mich auf. »Sehe ich aus, als wäre ich so dumm, noch einmal auf deine Lügen hereinzufallen? Wie kannst du es wagen, mich zu rufen, nachdem du unser Lager angegriffen hast?«
»Sieh mich an!« Inan kommt auf mich zu. »Schau mir in die Augen! Wenn ich diesen Angriff angeordnet hätte, warum hätte ich mich dann mit dir treffen sollen? Warum hätte ich mir ein Gespräch mit Zélie angetan, wenn ich gewusst hätte, dass Mutter das ganze Land mit Krieg überziehen will?«
Ich will etwas erwidern, doch seine Worte zwingen mich, innezuhalten. Als wir den Alarm im Sanktuar hörten, war Inan anfangs ebenso ratlos wie ich.
Ich dachte, das hätte er uns vorgespielt.
»Ich weiß, dass du mir nicht trauen kannst.« Er schüttelt den Kopf. »Und ich weiß, dass ich mich dafür nie genug entschuldigen kann. Aber wenn man Königin ist, kann man nicht nach Gefühl regieren.«
Ich kneife die Augen zusammen. »Warum hast du mich gerufen?«
»Du hast gewonnen.« Inan lässt die Hände sinken. »Ich ergebe mich. Mit dem, was ich jetzt weiß, kann ich nicht weitermachen. Ich will in diesem Krieg nicht mehr kämpfen.«
Was ist hier los? Mir fällt die Kinnlade hinunter, mein Kopf arbeitet fieberhaft. Eigentlich kann ich ihm kein Wort glauben, doch in seinen Augen sehe ich aufrichtige Reue.
»Würdest du den Thron wirklich aufgeben?«, frage ich.
Inan zieht den Kopf ein, als sei das Wort ein Fluch. »Zum Wohle von Orïsha würde ich alles tun.«
Ich beiße die Zähne aufeinander und mache mit zitternden Beinen einen Schritt nach hinten. Keine Ahnung, was passiert ist, aber ich weiß, dass Inan die Wahrheit sagt. Sich zum Wohle Orïshas zu opfern ist alles, was mein Bruder noch kann.
Als er mir die Hand hinhält, muss ich an Zélies Vater denken. An Mâzelis Leiche, an der sie so herzzerreißend schluchzte. Das ist Inans Werk gewesen. Auf diese Weise gewinnt er doch.
Er ist so gut im Lügen geworden, dass er nicht mal merkt, wenn er sich selbst etwas vormacht.
»Lass mich gehen!«
»Amari, bitte!«, bringt er mit erstickter Stimme hervor. »Alles, was passiert ist … Hinter allem steckte Mutter. Aber wir können dem ein Ende setzen!«
»Dieses Königreich hat keine Chance, solange du und Mutter leben.« Ich verschränke die Arme. »Ich brauche dich nicht, um diesen Krieg zu gewinnen.«
»Doch, brauchst du.« Er legt die Hände auf seinen Bauch und knirscht vor Schmerzen mit den Zähnen. »Denn du kannst sie nicht besiegen. Für Mutter ist kein Opfer zu groß.«
»Ich werde gewinnen«, knurre ich. »Und dann werde ich alles sühnen, was meine Familie verbrochen hat. Ich werde die größte Königin von Orïsha werden. Ich werde das gesamte Königreich verändern!«
Ich balle die Fäuste, meine Brust hebt und senkt sich schnell. »Ich bitte dich ein letztes Mal: Lass mich gehen! Jetzt.«
Inan senkt den Kopf. Es ist, als würde er vor meinen Augen zusammenschrumpfen. Mir schnürt sich der Hals zu. Bevor ich anfange zu weinen, wende ich den Blick ab.
»Ich hab nie gewollt, dass es so weit kommt.«
Ich schließe die Augen, die Traumwelt verblasst.
»Ich auch nicht.«
Keuchend fahre ich hoch und drücke Tzains Agbada an meine nackte Haut. Er schläft neben mir. Ich bin in meinem Zimmer.
Wild klopft mir das Herz in der Brust, als mir Inans Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Du kannst sie nicht besiegen. Für Mutter ist kein Opfer zu groß.
»Du irrst dich«, flüstere ich vor mich hin. Beide irren sich. Der Sieg ist zum Greifen nah. So nah, dass ich ihn spüren kann. Ich muss mich nur noch mehr anstrengen. Muss kühner sein. Jeden Winkelzug vorhersehen.
Um sie zu besiegen, muss ich skrupellos sein.
Ich muss bereit sein, zu kämpfen wie Mutter.
Langsam und vorsichtig rutsche ich aus dem Bett, um Tzain nicht aufzuwecken. Ich ziehe mir ein altes Hemd über und trete auf den Gang. Als ich die Treppe hoch haste, hallen meine Schritte laut durch die Stille.
Es ist klug von Mutter und Inan, die Bewohner von Ibadan als Schutzschild zu missbrauchen. So sind uns die Hände gebunden. Aber wenn die Dorfbewohner gar nicht da wären … Wenn man keine Rücksicht auf sie nehmen müsste …
In meinem Kopf nimmt ein neuer Plan Gestalt an. Ich klopfe an Jahis Tür. Auf der anderen Seite ertönt ein Fluch, bevor sie geöffnet wird.
Der Windflüsterer blinzelt mich im Laternenlicht an. »Ich kann nur hoffen, dass du mich weckst, weil wir angegriffen werden.«
»Es geht um Ibadan! Wir müssen unseren Plan ändern.«
Jahi tritt zurück und öffnet seine Tür. »Kommen die anderen Ältesten auch?«
»Nein.« Ich betrete sein Zimmer. Mir steht Inans Gesicht vor Augen. »Die haben ihren eigenen Plan. Dieser hier bleibt unter uns.«