Kapitel 67
Amari
Nachdem wir uns vier Tage durch die Berge vor Ibadan gegraben haben, haben wir es endlich geschafft. Kâmarū tritt zurück und gibt den Blick auf das glitzernde Wasser der unterirdischen Höhle frei. Bei seinem Plätschern wird mir innerlich eiskalt. Die anderen Ältesten sehen mich erwartungsvoll an.
»Kannst du sie sehen?«, frage ich Dakarai. Er flüstert eine Beschwörungsformel, und zwischen seinen Händen entsteht ein Sternengewimmel. Durchscheinende Bilder von Dorfbewohnern, die in ihren pyramidenförmigen Ahérés sitzen, tauchen auf und verblassen.
Bei jeder Szene scheinen die Höhlenwände näher zu rücken. Ich sehe im See schwimmende Kinder, einen Vater und seine Tochter beim Kochen zu Sonnenuntergang, eine Menschenschlange am Dorfbrunnen.
Jeder unschuldige Dorfbewohner ist für mich eine Mine auf dem Schlachtfeld.
»Da sind sie.« Ich packe nach Tzains Arm, als zwischen Dakarais Händen ein schwaches Bild von Mutter und Inan erscheint. Auch wenn sie verschwommen sind, erkenne ich ihre Gestalten.
Sie sitzen in einer pyramidenförmigen Ahéré, inmitten von Militärs. Es ist seltsam, sie aus der Ferne zu beobachten. Sie haben keine Ahnung, was ihnen bevorsteht.
»Wir haben nicht viel Zeit.« Meine Stimme wird von den engen Wänden zurückgeworfen. »Die Patrouille hat bei Sonnenaufgang Wachwechsel. Wenn Nâo uns zu den Seen von Ibadan geführt hat, müssen wir schnell sein.«
»Dann los!« Nâo zieht den blauen Helm über ihren rasierten Kopf. »Ich bin bereit. Wer kommt mit?«
Roën meldet sich ohne jede Gemütsregung. Ibadan ist unser bester Garant dafür, Inans Versteck zu finden.
»Ich komme auch mit«, bietet sich Tzain an. »Schließlich kenne ich das Dorf. Ich kann helfen, die beiden aufzuspüren.«
»Wer auch immer Roën begleitet, muss so lange in Ibadan bleiben, bis Nâo uns zurückholt.« Ich schüttele den Kopf. »Wir brauchen jemanden mit Magie.«
»Ich komme mit.«
Ich blinzele, traue meinen Augen kaum, als Zélie die Hand hebt. Die ganze Woche hat sie kein Wort mit mir gesprochen. Ich hatte mich schon gewundert, dass sie überhaupt hier ist.
»Ich kenne das Dorf noch«, sagt sie. »Während sich die übrigen Ältesten reinschleichen, suchen wir den König und die Königin.«
»Okay.« Ich nicke ihr zu, doch sie weicht meinem Blick aus. »Alle anderen ruhen sich aus, aber halten sich bereit. Sobald Nâo uns holt, brechen wir auf, um diesen Krieg zu beenden.«
Die Ältesten verteilen sich auf dem schmalen Raum, der uns zur Verfügung steht. Nur Jahi trödelt.
»Was ist mit uns?«, fragt er leise und weist auf Imani.
»Warte, bis alle schlafen«, flüstere ich. »Dann mach dich auf in die Berge.«
Mit einem bitteren Geschmack im Mund verfolge ich, wie Jahi sich zu Imani umdreht und ihr meine Anweisungen erteilt. Der Siecherin fällt die Kinnlade hinunter, sie schaut kurz zu mir herüber und nickt dann.
Entspann dich, Amari! , mahne ich mich. So weit wird es nicht kommen. Wir können Mutter und Inan besiegen. Wir müssen uns nur an unseren Plan halten.
Ich gehe zu Zélie; mit zusammengepressten Lippen zieht sie ihre Rüstung an.
»Danke«, sage ich lächelnd. »Du hättest dich nicht melden müssen.«
»Ich lasse nicht zu, dass mein Bruder sein Leben lässt, nur damit du auf deinem feinen Thron sitzen kannst.«
Sie bekommt nicht mit, wie sehr ihr Hass mich verletzt, weil sie an mir vorbeiläuft und sich zu Nâo gesellt, die Khani einen Kuss gibt. Die Wellenhüterin und die Siecherin umarmen sich, dann tritt Nâo vor.
Sie stellt sich vor den Durchbruch und streckt die Arme aus, so dass ihre Hände zum Wasser weisen. Dann beginnt sie ihre Beschwörungsformel zu sprechen.
»Èyà omi, omi sí fún mi …«
Das blaue Licht der Wellenhüter erglüht um ihre schlanken Finger. Sie bringen das Wasser zum Schäumen und lassen es in Wirbeln aufsteigen. Nâo springt in den trichterförmigen Hohlraum, den sie im Wasser geschaffen hat, und gibt den anderen ein Zeichen, ihr zu folgen.
Roën steckt seine Waffe ein und würdigt Zélie keines Blickes, bevor er hinterherspringt. Sie zögert. Tzain legt ihr die Hand auf die Schulter.
»Soll ich nicht doch lieber an deiner Stelle gehen?«, fragt er.
»Nein, schon gut.« Sie legt die Hand auf seine. »Ich bin stark genug, um diesen Krieg zu beenden.«
Tzain nimmt seine Schwester in die Arme und drückt sie fest. Dann lässt er sie los. Ich stelle mich neben ihn. Zélie springt zu Nâo und Roën ins Wasser.
»Èyà omi, omi sí fún mi …« , führt Nâo ihre Beschwörung fort. Das Wasser um die drei weicht zurück. Es schließt sich über ihren Köpfen und fängt sie in einer Luftblase, die es ihnen ermöglicht, trockenen Fußes durch die unterirdischen Seen zu gehen. Mit gerunzelter Stirn sieht Tzain seiner Schwester nach. Bei jedem ihrer Schritte versteift sich sein Körper mehr.
»Glaubst du wirklich, dass sie es schaffen?«, fragt er. Ich zwinge mich zu nicken.
»Müssen sie«, sage ich. »Stärkere Maji gibt es nicht.«
Doch ich grabe die Nägel in meine Handflächen, als die drei aus unserem Blickfeld verschwinden.
Ich weiß, was ich zu tun habe, falls sie versagen.