Kapitel 68
Inan
Ich sitze in unserer pyramidenförmigen Ahéré und umklammere mit zitternden Händen die Bronzemünze. Mit jeder verstreichenden Sekunde spüre ich die Bürde der auf dem Spiel stehenden Leben stärker. Mutter hockt mir gegenüber. Man sieht ihr nichts von all dem Blut an, das an ihren Händen klebt. Keine Spur von Schuldgefühlen. Wenn überhaupt, verkneift sie sich ein Lächeln.
»Euer Majestät, wir haben Nachricht aus dem Palast.« General Fa’izah reicht mir eine Pergamentrolle. »Die Iyika nähern sich der Stadtgrenze von Lagos.«
»Haben unsere Soldaten Stellung bezogen?«, fragt Mutter.
»Komplett.«
»Gut.« Sie lächelt die Offiziere am Tisch an. Als ihr Blick auf Ojore fällt, schießt mir ein Schmerz durch die Brust. Ich muss immer auf die Brandnarben in seinem Nacken starren. Narben, deren Ursache Mutter ist.
Ich verstehe nicht, wie sie ihn anlächeln kann. Wie sie mit ihm sprechen kann. Wie sie überhaupt atmen kann. Seitdem ich weiß, was sie getan hat, kann ich ihm nicht mehr in die Augen sehen.
Ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder vermag.
»Ich muss an die frische Luft!« Ich stehe auf und will zur Tür. Ojores Blick weiche ich aus.
»Inan, wir müssen im Zelt bleiben!«, ruft Mutter mir nach. »Die Iyika können jeden Moment zuschlagen …«
»Schon gut«, unterbreche ich sie und gebe ihr keine Möglichkeit, noch etwas hinzuzufügen.
Kaum bin ich draußen, laufe ich los. Der Bergwind kühlt den Schweiß auf meiner Haut. Zur Sicherheit sehe ich mich um, doch als ich Mutters Rufe hinter mir höre, schlüpfe ich schnell in eine eiserne Ahéré, die zu Ibadans militärischer Befestigung gehört, und schließe die Tür hinter mir, damit sie mich nicht findet.
Auch wenn Mutter nicht mehr in der Nähe ist, lasten ihre Verbrechen schwer auf mir. Sie kann das Blut nicht fortwaschen, das meine Familie vergossen hat. Mit schweren Schritten stampfe ich über den Metallboden und denke an das bevorstehende Gemetzel. Wie viele Menschen müssen sterben, um einen gestohlenen Thron zu schützen? Wie viele davon werden Maji sein?
Ich muss dem Einhalt gebieten.
Kopfschüttelnd gehe ich in der leeren Ahéré auf und ab. Ich kann nicht abwarten, ob Amari auf mein Friedensangebot eingeht. Ich muss es selbst in die Hand nehmen, diesen Krieg zu beenden.
Als sich die Klinke bewegt und die Tür sich stöhnend öffnet, balle ich die Faust.
»Es ist vorbei, Mutter …«
Ojore erscheint im Türrahmen. Mit leerem Gesichtsausdruck starrt er mich an.
»I…ich dachte, es wäre Mutter.«
Das Quietschen der sich schließenden Tür durchbricht die Stille. Ojore tritt vor. Das Licht der Laterne fällt auf die Brandnarben in seinem Nacken. Mir wird übel, ich wende den Blick ab.
»Wir müssen den Angriff abblasen.« Ich sehe zu Boden. »Das ist alles meine Schuld. Dieser Krieg … wir übertreiben es.«
»Warum schaust du mir nicht in die Augen?«
Seine eisige Stimme lässt mich erstarren, meine Nackenhaare stellen sich auf. Ojore macht einen Schritt auf mich zu.
»Du musst kein schlechtes Gewissen haben, hörst du«, flüstert er mir zu. »Deine Mutter hat ja auch keins, und die weiß es seit Jahren.«
Mit einem dicken Kloß im Hals schaue ich auf. Ojore verzieht den Mund zu einer bösartigen Grimasse. Ich erkenne ihn nicht wieder. Es ist, als sei der alte Ojore verschwunden.
»Ich kann nicht hier sitzen, wenn in Lagos gekämpft wird«, sagt er. »Ich kann meine Soldaten nicht im Stich lassen. Das wollte ich dir sagen. Ich wollte deine Mutter und dich nicht dabei belauschen, wie ihr den Tod meiner Familie feiert.«
Seine erstickten Worte tun mir mehr weh als Vaters Schwert in meinem Bauch. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich werde bleich.
»Es war falsch.« Ich schüttele den Kopf. »Es war ihr Fehler. Deshalb blase ich die ganze Sache ab. D…deshalb will ich diesen Krieg beenden!«
Doch Ojore starrt in die Ferne, und ich merke, dass meine Worte auf taube Ohren treffen. »Weißt du, was ich alles für deine Familie getan habe?« Tränen treten ihm in die Augen. »Wie viele Maji ich getötet habe?«
»Ja, das weiß ich.« Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. »Glaub mir, das weiß ich.«
Zélies Gesicht steht mir vor Augen. Ich stelle mir vor, was für ein Leben sie hätte führen können. Führen sollen. Wäre es anders gelaufen, würde sie immer noch mit ihrer Familie in den Bergen leben. Die Blutnacht hätte ihr nicht die Heimat genommen. Sie hätte nicht den Fehler gemacht, mir zu vertrauen. Sie hätte keine Narben auf dem Rücken.
»Die ganzen Jahre habe ich geglaubt, die Maji wären der Feind«, sagt Ojore. »Ich habe ihnen die Schuld an allem gegeben. Ich habe sie gehasst. Doch in Wirklichkeit steckte deine Mutter hinter allem!«
Seine Stimme wird tief und dunkel, der Ausdruck in seinen Augen verändert sich. Ojore reckt sich. Der Hass bringt eine neue Entschlossenheit in ihm hervor. Als er sein Schwert zieht, gefriert mir das Blut in den Adern.
»Ich bringe sie um«, flüstert er lautlos. »Ich bringe sie um, bevor sie noch jemanden töten kann.«
»Ojore, warte!« Mit hoch erhobenen Händen stelle ich mich ihm in den Weg. »Mutter wird für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen, das verspreche ich dir. Aber es stehen gerade viel mehr Leben auf dem Spiel.«
»Verzieh dich!« Er hält mir das Schwert an die Kehle.
Mein Hals wird trocken.
»Verzieh dich!« , wiederholt er. »Sonst sorge ich dafür, dass du verschwindest!«
Ich schaue auf das Schwert in seiner Hand, dann auf ihn. Er ist fest entschlossen. Nichts deutet darauf hin, dass er mir eine Chance gibt. »Ojore, so geht das nicht.«
»Ich sage es nicht noch mal.«
Kaum leuchtet das blaue Licht in meiner Hand auf, sticht Ojore zu.
Ich weiche der Klinge aus. Meine Magie erlischt wie eine Flamme. Ohne zu zögern, greift Ojore erneut an. Ich springe zur Seite, sein Schwert schlägt gegen die Metallwand der Hütte.
»Ich will dich nicht verletzen!«, rufe ich. Doch die blinde Wut in seinen Augen zwingt mich, aufs Ganze zu gehen.
Ich ziehe meine Waffe und schleudere sie auf Ojores Oberschenkel. Doch er macht eine Handbewegung, und der Dolch schwebt vor ihm in der Luft.
Dunkelgrüne Ashê umwabert Ojores Finger.