Kapitel 70
Zélie
Bumm!
Bumm!
Bumm!
Die Explosionen folgen so schnell aufeinander wie fallende Dominosteine.
Der erste Zünder ist nur der Beginn.
Dutzende Bomben gehen los.
Die Götter ziehen uns den Boden unter den Füßen weg, die Höhle sackt in sich zusammen. Ich stürze durch Dunkelheit und Wasser. Mein Körper pocht immer stärker.
»Roën!«, versuche ich zu rufen, doch das Wasser erstickt meine Schreie. Meine Ohren sind taub von den Explosionen. Ich kann nichts sehen. Steine reißen mir die Haut auf. Dann falle ich rücklings hin. Ich schnappe nach Luft und packe mir an die Kehle, Wasser läuft mir in den Mund.
Hilfe!
Mein Hals brennt, ich kann nicht mehr atmen. Bevor ich weiß, wo oben und unten ist, fallen große Steinbrocken von der Decke.
Einer begräbt mein Bein unter sich. Zähneknirschend versuche ich, es zu bewegen. Der Stein schneidet mir ins Fleisch, durchtrennt den Muskel. Ich öffne die Augen in der Dunkelheit, und da begreife ich es.
Niemand wird mich retten.
Es ist vorbei.
Bei der Erkenntnis zieht sich meine Brust zusammen. Ich trete um mich, kratze, stoße, doch es nützt nichts.
Ich hatte immer gedacht, mein Leben würde mit einem Knall zu Ende gehen, stattdessen erlebe ich bewusst jede Sekunde. Mit dem anderen Bein versuche ich, den großen Stein wegzuschieben, reiße mir aber an der Oberfläche nur die Haut auf. Mein Schienbein blutet.
Lass los …
So flüstert es tief in mir. Tränen treten mir in die Augen, mein Körper sinkt auf den kalten Boden.
Wenn ich jetzt liegen bleibe, gibt es keinen Krieg mehr. Keine Wunden, die niemals heilen. Ich weiß, welchen Frieden die Umarmung des Todes verspricht.
Ich habe die Freiheit schon gekostet, die jenseits des Schmerzes wartet.
Lass los
, artikuliere ich lautlos und halte mich an den Worten fest. Meine Lunge giert nach Luft. Fast kann ich die Himmelsmutter singen hören. Plötzlich erscheint Mamas Gestalt in der Dunkelheit.
Sie leuchtet weiß und wird noch heller, als Baba neben ihr auftaucht. Ich hebe den Kopf vom Boden.
Dann höre ich Mâzelis Stimme.
»Jagunjagun!«
Fast muss ich lachen, als seine Gestalt sich zu den beiden gesellt. Mein Adjutant steht neben Baba, seine Ohren sind immer noch zu groß für seinen Kopf.
Ich strecke die Hand nach Mâzeli aus. Alles in mir will diese leuchtende Gestalt festhalten. Ich kann den Schmerz nicht mehr ertragen.
Ich habe dieser Welt nichts mehr zu geben.
Mâzeli streckt seine Hand nach mir aus, als wolle er mich ins Jenseits ziehen. Doch als ich zugreife, hält er meine Hand nur fest, hilft mir nicht hinüber.
Stattdessen schenkt er mir eine Vision.
Die Momente vor der Explosion dringen durch den Nebel in meinem Kopf. Die Zeit bleibt stehen, ich sehe ein rotes Blitzen. Wieder rieche ich das Gas, das in meiner Nase brannte.
Hinter Roën detonierte eine Bombe nach der anderen, brachte die Wände der Höhle zum Einstürzen und schleuderte uns in diesen Abgrund. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, aber es waren viele Explosionen nacheinander. Genug, um eine ganze Armee auszulöschen. Um unsere
Armee auszulöschen.
Nein …
Mir wird schwindelig, als ich begreife: Wir haben keinen Angriff der anderen Seite ausgelöst.
Wir sind in eine Falle getappt.
Es ist, als würde noch ein Felsbrocken auf meine Brust fallen. Wir dachten, wir seien im Vorteil, doch die Monarchie wusste, dass wir kommen. Sie wusste, dass wir diesen Weg wählen würden.
Wenn sie in den unterirdischen Seen eine Falle aufgestellt haben, was für Gefahren lauern dann oben auf uns? Welche Hinterhalte warten auf unsere Leute, die an Lagos vorbeimarschieren? Die Maji und Divînés auf dem Weg zum Meer sind praktisch wehrlos.
All unsere Ältesten sind hier!
»Nana …«
Das Lied der Himmelsmutter durchdringt mich. Mein Körper wird taub vor Furcht. Mâzelis Gestalt entfernt sich, dafür will mich der Tod in seine warmen Arme nehmen. Meine Lunge
kollabiert. Brennend läuft mir Wasser in den Hals, raubt mir die Luft. Noch nie habe ich einen solchen Schmerz gespürt. Mehr, als mein Körper aushalten kann.
Alles in mir will aufgeben. Sich in die Schwärze fallen lassen. Damit das Leid ein Ende hat.
Doch hinter dem Schmerz sehe ich Marís Gesicht mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen. Ich sehe den blassen Fleck um Bimpes braune Lippen.
Ich sehe die Gesichter aller Seelenfänger, die ich noch nicht kenne. Ich sehe meinen Bruder lachen. Ich sehe Amari und die anderen Ältesten.
Ich sehe die Monarchie, die wir besiegen müssen.
Der Schmerz ist fast zu groß, gleichzeitig spornt er mich an. Ich hatte so gewaltige Angst, ihn zu fühlen, aber er zeigt mir, dass ich noch lebe.
Durch ihn weiß ich, dass noch etwas in mir ist, das kämpfen kann.
Ẹ tọnná agbára yin.
Meine Tätowierungen entflammen sich und schimmern golden. In Gedanken sage ich die Formel auf. Die Zeichen auf meiner Haut wärmen mich im eisigen Wasser, und ich erlaube ihnen, die noch vorhandene Lebenskraft zu verstärken.
Ich stoße einen Schrei aus, und das stumme Brüllen steigt in Blasen aus meinem Mund. Obwohl ich nichts mehr zu geben habe, mobilisiere ich alle Kräfte.
Ich versuche, mein Bein zu befreien. Der abgebrochene Felsbrocken hat es bis auf den Knochen aufgerissen. Ein Ruck, dann ist es frei. Keuchend rudere ich mit den Armen.
Ich hieve mich hoch, um dem steigenden Wasser zu entkommen. Dabei habe ich nichts anderes im Kopf als Tzain, Amari, Roën.
Wenn ich jetzt sterbe, haben sie keine Chance.
Ich muss leben.
Alle Muskeln in meinem Körper erschlaffen, mir geht der Sauerstoff aus. Mit den Gedanken bei meinen Seelenfängern hebe ich dennoch zitternd die Hand.
Ein violettes Licht erscheint in der Dunkelheit, Schemen steigen aus meinen Fingern. Sie klammern sich über mir fest und ziehen mich hoch.
Als ich hochsteige, fällt alles von mir ab. Der ganze Schmerz. Mâzelis letzte Worte. Babas Lächeln. Die Kette, die sie um Mamas Hals legte.
Nach Luft schnappend lasse ich alle Narben zurück, die sie mir ins Herz geschnitten haben, und breche durch die Wasseroberfläche.
Ich lebe.
Ich will leben.