Kapitel 72
Zélie
Keuchend durchbreche ich die Wasseroberfläche. Ich muss so stark husten, dass ich kaum Luft bekomme. Um mich herum erheben sich fremde Berge. Ein blassgelbes Licht scheint auf mich herab.
Ich schleppe mich zu dem schmalen Kiesstreifen am Ufer und kralle mich zitternd am Land fest. Mit brennender Kehle huste ich das Wasser aus meiner Lunge.
Atme , befehle ich mir. Noch nie hat Luft so süß geschmeckt. Ich versuche, die Welt um mich herum wahrzunehmen, doch mein Kopf ist noch ganz benebelt.
Alles dreht sich, nur ein Gedanke dringt zu mir durch. Nâo war bei der Explosion am weitesten entfernt. Die Höhle ist direkt über Roën eingebrochen.
Wenn er noch lebt, braucht er meine Hilfe.
Immer noch knapp bei Atem, sauge ich so viel Luft wie möglich ein. Ich gönne mir nur eine Sekunde über Wasser, dann tauche ich wieder ab.
Ẹ tọnná agbára yin.
Die Symbole des Mondsteins glühen unter meiner Haut und spenden mir Licht in der Dunkelheit. Nur noch ein Leben pulsiert in der Tiefe des Wassers.
Ein Menschenleben, das sekündlich schwächer wird.
Ich komme!
Meine Beine tun weh. Bei jedem Fußschlag sickert Blut ins Wasser. Aber die Schmerzen sind ein Geschenk. Sie sind wie Luft für meine Lunge, denn sie mahnen mich, nicht aufzugeben.
Beim Anblick von Roëns zusammengesackter Gestalt zieht sich mein Herz zusammen. Sein Lebensfunke ist nur noch schwach, er steht kurz vorm Tod. Eine zerborstene Maske wie die bei unserem Tauchausflug mit dem Blauwal bedeckt seine Nase, so dass er noch ein wenig Sauerstoff bekommt.
Ich tauche näher heran. Da sehe ich den großen Felsblock auf Roëns Oberarm. Ich stemme mein unverletztes Bein dagegen, doch der Stein ist viel zu schwer. Wie sehr ich mich auch bemühe, er rührt sich nicht. Uns läuft die Zeit davon.
Roën greift nach mir, umklammert mein Handgelenk. Blasen schweben aus seinem Mund. Er kann zwar nicht sprechen, doch ich weiß, was er mir sagen will.
Geh.
Nein! , möchte ich ihm zurufen. Wie oft hat er mir aus der Bredouille geholfen? Hat mich an die Oberfläche gezogen, wenn ich unterzugehen drohte? Ich werde ihn nicht zurücklassen. Jetzt muss ich ihn retten.
Èmí òkú, gba ààyé nínú mi …
Violette Schatten breiten sich wie Tinte im Wasser aus. Roën verdreht die Augen. Meine Schatten versuchen, den Felsblock wegzuschieben, doch sie sind zu schwach. Zu langsam.
Roëns Gliedmaßen bekommen Auftrieb. Ich kann ihn nur noch auf eine Art retten. Das Herz schlägt wild in meiner Brust. Andere Schatten erheben sich und wickeln sich um seinen Arm. Ein anderer Schemen bildet eine gezackte Klinge. Ich schicke ein Gebet zu Oya und schließe die Augen.
Dann durchtrennt mein Schatten Roëns Oberarm direkt am Felsblock. Mir geht die Luft aus.