Kapitel 76
Amari
Ich erinnere mich an den Morgen nach der Blutnacht, als sei es gestern gewesen.
Man hätte meinen sollen, dass die Sonne nicht mehr aufging oder dass der Mond sein Licht verloren hätte, aber alles war genau wie immer.
Sechs Jahre alt, erwachte ich mit einem Schreck und hielt Ausschau nach Bintas Häubchen mit den eingearbeiteten Falten. In meinen Träumen hatte ich ein Abenteuer auf dem Meer bestanden. Ich wollte ihr alles haarklein berichten.
»Binta, wo bist du?« , hallte meine Stimme durch meine in Gold- und Rosatönen gehaltenen Gemächer. Als die Tür aufschwang, trat eine großgewachsene Magd ein, eine Kosidán mit schmalen Lippen und spitzem Kinn.
Sie schrubbte mich beim Waschen zu heftig. Riss mir zu stark an den Haaren. Mit geballten Fäusten saß ich da. Wenn ich zu fragen wagte, wo Binta sei, kniff sie mir in den Arm. Sobald ich konnte, riss ich mich von ihr los.
»Vater!« , rief ich und schlitterte über den Marmorboden der Gänge. Die Magd lief mir keifend vor Zorn hinterher. Vielleicht hatte sie auch Angst.
Ich platzte durch die Eichentüren in den Thronsaal, um mich zu beschweren. Vater saß reglos da.
Unnatürlich still.
»Vater?« Ich ging zurück in den Korridor. Er sah sich immer den Sonnenaufgang über Lagos an, doch an jenem Tag hielt die Luft um ihn herum den Atem an.
In der Stille wusste ich, dass etwas passiert war. Es würde keine fröhlichen Zeiten mehr geben.
All die Jahre habe ich mich gefragt, wie er sich gefühlt haben muss.
Heute weiß ich es.
»Nein!«
Tzain schlägt um sich wie ein wildes Tier, versucht verzweifelt, sich aus meinem Griff zu befreien. Ich ertrage kaum, wie er sich windet. Wie Tränen und Speichel über sein Gesicht laufen.
»Wie konntest du nur!« Seine Schreie in der Stille sind spitz wie splitterndes Glas. »Wie konntest du!«
Die Giftwolke der Siecher beginnt sich aufzulösen. Kein Lufthauch weht mehr durch Ibadans Berge.
Ich versuche, das hohle Gefühl in meiner Brust zu verdrängen. Ich habe den Krieg gewonnen.
Doch zu welchem Preis?
Stoß zu, Amari!
Alles dreht sich um mich herum, obwohl ich mit den Füßen fest auf dem Boden stehe. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Diesen Schlag werden mir Tzain und die Ältesten niemals verzeihen.
Aber ich kann nicht zulassen, von diesem Wissen gebrochen zu werden. Wir haben den Sieg errungen.
Es ist an mir, ihn zu verkünden.
»Auf geht’s!« Ich marschiere zu meiner Gepardesse und steige auf ihren Ledersattel. Dieser Moment wird sich in allen Landen verbreiten. Dies ist die Geburtsstunde des neuen Orïsha.
Aus der Asche wird ein neues Königreich hervorgehen. Ein Königreich, das diese Opfer wert ist. Doch kein Ältester folgt meinem Beispiel. Alle sind in eine Schockstarre verfallen. Ich kann es mir jedoch nicht leisten, schockiert zu sein.
Irgendwann werden sie mich verstehen.
Jetzt muss ich erst einmal das Ende dieses unendlichen Kampfes verkünden.
Ich schlage die Zügel meiner Gepardesse und reite los, bevor ich keine Kraft mehr habe. Ich ertrage Tzains Schluchzen nicht. Seine wimmernde Not.
Meine Hände zittern unkontrolliert. Es ist unfassbar, wie viele Leben ich ausgelöscht habe.
Inan. Mutter.
Die Soldaten. Die Dorfbewohner.
Zélie …
Nein.
Ich verdränge die Last, die ich niemals schultern könnte. Doch wenn Zélie noch lebte, wäre sie mit Nâo zurückgekehrt. Sie ist durch die Bomben der Monarchie gestorben.
Zélies Opfer hat es uns ermöglicht, den Krieg zu gewinnen.
Das ist die Geschichte, die wir erzählen werden.
Doch als ich mich der Dorfgrenze von Ibadan nähere, merke ich, dass sie nicht ausreichen wird. Schon aus der Ferne sehe ich die verkohlten Leichen auf den Straßen. Leichen, die wegen mir dort liegen.
Ich stelle mir Inan und Mutter unter den Toten vor.
Ich stelle mir meine beste Freundin vor.
Stoß zu, Amari!
Vaters Stimme dröhnt in meinem Kopf. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich atme zwar, aber meine Lunge zieht sich zusammen. Es fühlt sich an, als wäre ich lebendig begraben.
»Orïsha wartet auf niemanden«, flüstere ich. »Orïsha wartet auf niemanden.«
Als ich durch das Tor von Ibadan reite, wünsche ich mir nichts mehr, als dass diese Worte wahr sind.