Kapitel 77
Zélie
Als sich meine Augen flatternd öffnen, weiß ich nicht, wo ich bin. Es ist, als würde ich in der Dunkelheit schweben. Über meinem Kopf dreht sich ein Licht.
Ein grober Strick wird um meinen Oberkörper gewickelt, dann werde ich in die Helligkeit gezogen. Der Säugling schreit immer noch an meiner Schulter.
»Hievt sie über den Brunnenrand«, ruft eine ältere Stimme.
Kräftige Hände packen mich an den Armen und ziehen mich über die Einfassung. Ich schütze die Augen vorm Licht; jemand nimmt mir das Baby ab, jemand anders bückt sich, um die durchweichten Stofffetzen von meinem blutenden Schienbein zu lösen.
»Darf ich?« Ich sehe die ältere Frau blinzelnd an, die sich neben mich kniet. Sie nimmt die weiße Gele von ihren grauen Locken, um mein Bein damit zu verbinden.
»Du hast uns gerettet«, sagt sie kopfschüttelnd. »Ich kann dir nicht genug danken.«
Ich schließe wieder die Augen und versuche, trotz des Schmerzes etwas zu denken. Rachegelüste brodeln in meiner Brust. Ich kann meine Beine nicht spüren. Doch die Erinnerungen fügen sich allmählich zusammen, bis ich wieder weiß, warum wir uns in dem Brunnen verschanzt haben. Warum ich die Schatten rief und alles schwarz wurde.
»Roën?« Ich greife mir an die Brust und versuche, ihn zu fühlen. Sein Herz hallt noch in mir wider, aber die Verbindung wird schwächer und schwächer.
»Er wird versorgt. Sie tun, was sie können.« Die alte Frau weist auf ein Pyramidenzelt hinter dem Brunnen. Ich recke den Hals. Die Steintüren stehen weit auf, ich kann die Heiler und Kosidán aus dem Dorf sehen, die sich um Roëns verletzte Gestalt drängen.
»Ich muss gehen.« Ich schiebe die Frau von mir und will aufstehen. In mir spüre ich Roëns Leben, doch sein Puls ist zu schwach. Der Druck in meinem Oberkörper nimmt zu. Es ist dasselbe schwere Gewicht, das ich vor Mâzelis Tod spürte.
Ich weiß nicht, wie lange ich die Verbindung noch aufrechterhalten kann, bevor sein sterbender Körper uns beide umbringt.
»Zélie, bitte!« Die Frau drückt mich hinunter und hält mir einen Becher mit frischem Wasser an die Lippen, damit ich etwas trinke. Sie schnalzt mit der Zunge. »Genauso stur wie deine Mutter.«
»Du kanntest Jumoke?«
»Ich habe noch keine andere Seelenfängerin gesehen, die sich so bewegen konnte. Bis heute.« Die alte Frau nickt. »Heute dachte ich, sie wäre von den Toten auferstanden.« Sie lehnt sich zurück und schaut sich um. »Und dabei hatte ich gehofft, der Krieg würde uns verschonen.«
Hinter ihr sehe ich eine Leiche auf der Straße, einen Mann, dessen rote Mütze im Dreck liegt. Er hat Blutflecken um Mund und Nase. Das Weiß in seinen Augen ist gelb. Seine dunkelbraune Haut ist schwarz und verschrumpelt vom Gas der Siecher.
Ein kleines Mädchen klettert aus dem Brunnen. Kaum wird ihr die Rüstung ausgezogen, fällt sie hin. Sie will schneller
laufen, als ihre Beine es erlauben, stolpert über ihre eigenen Füße. Tränen schießen ihr in die Augen.
»Baba!«
Ihr Schrei schmerzt mir in den Ohren. Das Mädchen sackt über der verkohlten Leiche zusammen und klammert sich an der schmutzigen Kleidung fest. Ein Dorfbewohner nimmt sie hoch und trägt sie weg. Ich muss mich abwenden. Ihre Schreie kommen mir nur zu bekannt vor.
Genau wie ich nach der Blutnacht.
Warum?
Ich berge den Kopf in den Händen und versuche zu verstehen. Was ist aus unserem Plan geworden? Warum hat Amari diesen Angriff gestartet?
Auch wenn einer nach dem anderen aus dem Brunnen geholt wird, liegen so viele Menschen auf der Straße, die ich nicht retten konnte: die junge Mutter, die ihren Säugling in Sicherheit brachte. Die Divîné, die nicht schnell genug war.
»Nein …«
Amari kommt auf den Dorfplatz gelaufen. Sie legt die Hand auf die Brust und sackt auf die Knie. Zuerst glaube ich, der Grund dafür seien die Leichen auf den Straßen, dann folge ich ihrem Blick. Am Berg über dem See prangt eine Botschaft. Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich, sie zu lesen.
Die rote Farbe hebt sich deutlich vom Fels ab, sie verläuft wie Blut. Andere Älteste nähern sich von Norden, entziffern und begreifen die Worte am Berg, und der Schrecken steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
WIR HABEN EURE SOLDATEN
.
ERGEBT EUCH
, SONST STERBEN SIE
.
Mein Herz fällt in sich zusammen. Jetzt kenne ich das wahre Ziel der Monarchie. Die Menschen hier wurden umsonst geopfert. Wir haben nicht gesiegt.
Die Monarchie hat uns überlistet.
Wir haben den Krieg verloren.