Kapitel 78
Inan
Das gleichmäßige Schaukeln dringt mir als Erstes ins Bewusstsein. Blinzelnd öffne ich die Augen und sehe Holzverkleidung. Ein ständiges Ächzen klingt mir in den Ohren, begleitet vom gleichmäßigen Trappeln von Rittlingen. Als die Erinnerung langsam zurückkehrt, fühlt sich mein Körper an, als hätte man ihn in Brand gesteckt.
»Ojore …«
Der Hass meines Cousins brennt sich in mein Innerstes. Es ging alles so schnell. So schnell, dass es scheint, als sei gar nichts geschehen.
Eben war er noch da und hielt mir eine scharfe Klinge an den Hals, im nächsten Moment …
Ich wusste nicht, dass Mutter solche Kräfte hat.
»Oh, den Himmeln sei Dank!« Mutter erhebt sich vorne im Wagen und legt ein Pergament beiseite, um zu mir zu kommen. Die Blutspritzer in ihrem Gesicht lassen sie seltsam aussehen.
Sie legt die Hand auf meinen Kopf. »Wie geht es dir?«
»Was ist passiert?«, krächze ich und will mich aufsetzen, aber es tut zu weh. Mutter drückt mich auf das Lager zurück und geht ihre Sammlung von Glasampullen durch, um mir ein Schmerzmittel an die Lippen zu halten.
»Es ist gut, Inan.« Sie streicht mir über das verschwitzte Haar. »Du kannst dich ausruhen. Wir haben es geschafft.«
Ihre Worte reißen ein tiefes Loch in das, was von meinem Herzen noch übrig ist. »Haben wir die Iyika besiegt?«
Sie nickt. »Dein Plan ist aufgegangen. Die Maden, die an Lagos vorbeigekommen sind, haben sich gewehrt, aber ohne ihre Anführer konnten sie nichts gegen meine Tîtánen ausrichten. Wir haben sie alle gefangen genommen.«
Ich versuche, den Sieg zu spüren, die Wärme in meinem Körper. Es ist vorbei. Geschafft.
Der Krieg ist gewonnen.
Stattdessen treten mir Tränen in die Augen. Ich halte mir den Bauch. Ojore …
Bei den Himmeln, er war mein ältester Freund.
»Trauere nicht um ihn!« Mutter drückt meine Hand. »Lass dir von diesem Verräter nicht den Sieg verderben! Nach allem, was wir für den Jungen getan haben, hätte man meinen sollen, dass er ein Mindestmaß an Zurückhaltung an den Tag …«
»Zurückhaltung?« Ich entreiße ihr meine Hände und schieße trotz der stechenden Schmerzen in meinem Oberkörper hoch. »Du hast seine Familie umgebracht. Du hast ihn
umgebracht!«
Mutter kneift die Augen zusammen, Eiseskälte schärft ihre Gesichtszüge. »Er hat den König angegriffen. Der dumme Junge hat sein eigenes Todesurteil gesprochen.«
Die Worte sind der letzte Schwertstich in meinen Bauch. Es wundert mich, dass ich kein Blut sehe. Ojore hat mich öfter gerettet, als ich zählen kann. Heute hätte er mich gebraucht.
Doch anstatt ihn zu unterstützen, habe ich ihn im Stich gelassen.
Ich habe zugelassen, dass Mutter ihn für den Thron opfert.
»Er hatte recht«, wispere ich. »Wir sind Gift.«
»Wir sind Herrscher, Inan! Wir sind Sieger
!«, verkündet sie voller Überzeugung. Ich verachte mich dafür, dass ich ihr
glauben möchte. Dass ich mich von dieser Schuld befreien will. Dieses hohle Gefühl aus meinem Herzen vertreiben will.
»Du hast getan, was von dir verlangt wird. Bis zum Ende bist du stark geblieben. Du hast den Krieg gewonnen, und jetzt kannst du dein Königreich huldvoll regieren. Du kannst den Frieden durchsetzen, den du dir so wünschst!«
Sie lächelt mich an, und endlich erkenne ich die Wahrheit in ihrem Gesicht.
Ich wollte der König sein, der mein Vater nicht sein konnte.
Stattdessen habe ich sein Werk fortgeführt.