Kapitel 81
Zélie
Jedes Mal, wenn wir unsere Hände auf einen eingefallenen Oberkörper legen, rechne ich damit, dass unsere Magie versagt. Doch ein Leichnam nach dem anderen erwacht zum Leben und ersteht von den Toten auf. Ich spüre das heiligste Geschenk Oyas unter meinen Händen, die altehrwürdige Magie von Leben und Tod. Als auch der Letzte wieder atmet, betrachte ich ungläubig die leuchtenden Tätowierungen auf meinen Händen.
Kein Seelenfänger und Heiler in der Geschichte hat jemals so etwas vermocht.
In unserer Magie liegt die Antwort. Das, was Oya mir die ganze Zeit sagen wollte. Wenn wir unsere Lebenskräfte mit Hilfe des Mondsteins verbinden, können wir die Maji aus dem Griff der Monarchie retten.
Dann können wir diesen Krieg noch gewinnen.
Ich stehe auf und gehe auf den Brunnen zu.
»Das ist sie«, flüstert ein kleiner Junge. »Jagunjagun Ikú.«
Zum ersten Mal fühlt sich die Bezeichnung richtig an. Als ich auf die Brunneneinfassung klettere, starren mich alle an, als sei ich Oya persönlich. Sonnenstrahlen tanzen wie Feuerzungen über meine Haut. Ich wende mich an die Bewohner von Ibadan.
»Es tut mir leid.« Jedem einzelnen Ältesten sehe ich in die Augen. »Ihr habt mich gebraucht, aber mir fehlte die Kraft, herzukommen.«
»Nein, uns tut es leid!« Na’imah tritt vor. Der Bergwind zerzaust ihre Locken. »Du hast uns gesagt, wir sollten Orïsha hinter uns lassen. Hätten wir auf dich gehört, ginge es jetzt allen gut.«
Die Leute murmeln zustimmend, doch ich schüttele den Kopf.
»Wir sind die Kinder der Götter.« Ich recke das Kinn. »Wenn jemand davonläuft, dann auf jeden Fall nicht wir.«
Ich denke an all den Schmerz, den die Herrscher verursacht haben. Die Menschen, die sie geopfert haben. Das Problem dieses Königreichs war nie die Magie.
Sondern die Monarchie.
»Vor elf Jahren stand ich an derselben Stelle, nachdem Saran Ibadan in der Blutnacht zerstört hatte. Ich hatte meine Mutter und mein Heim verloren. Wir hatten unsere Magie verloren!« Ich hebe die Hände. »Heute ist Saran tot. Unsere durch die Geburt gewährte Kraft fließt wieder durch unsere Adern. Doch in wenigen Monden hat die Monarchie nichts als Tod und Zerstörung in unsere Städte und Dörfer gebracht!«
»Mowà pẹlu olú ọba!«
, ruft ein Dorfbewohner und reckt seine braune Faust. Sein Schrei gellt mir in den Ohren: Nieder mit der Monarchie!
»Sie haben uns unsere Magie genommen. Unsere Heime. Die Menschen, die wir am meisten liebten. Damit ist jetzt Schluss!« Ich lege die Hand auf meine Brust. »Die Monarchie ist Orïshas Vergangenheit. Wir sind Orïshas Zukunft!«
Unter den Ältesten bricht Jubel aus, eine Flamme, die ich zwischen meinen Händen beschützen möchte. Ihr Feuer soll nicht ersterben. Ich will einen ganzen Feuersturm entfachen.
»Mowà pẹlu olú ọba!«
, rufe ich, und diesmal wiederholt die Menge die Worte, so dass sie durch das ganze Dorf hallen.
»Es wird keine Gnade geben. Keinen Frieden. Keine
Verhandlungen. Wir werden unsere Lebenskräfte miteinander verbinden und die Kraft unserer Götter walten lassen! Wir werden nach Lagos marschieren und seine Mauern einreißen!« Ich ziehe meinen Stab, hebe ihn über den Kopf und lasse die Klingen blitzen. »Wir werden unser Volk retten und dafür sorgen, dass kein Monarch jemals wieder dieses Land regiert!«
»Mowà pẹlu olú ọba!«
Die Parole wird zu einem ohrenbetäubenden Kampfruf. Ich fühle mich wieder lebendig.
»Mowà pẹlu olú ọba! Mowà pẹlu olú ọba!«
Als alle Dorfbewohner einfallen, wird mein Herz ganz groß und weit, doch dann sehe ich die Ältesten und begreife mit kaltem Grauen: Die Verbindung zu Roën hat mich fast das Leben gekostet. Das Band mit Tzain, Khani und Kâmarū hätte uns fast alle umgebracht. Selbst jetzt, wo wir hier gemeinsam stehen, wächst der Druck in meiner Brust, weil die Verbindung so viel Kraft kostet.
Als ich mich an Mama Agbas Worte im Versammlungsraum erinnere, wird meine Kehle trocken. Sie hat uns gesagt, wie hoch der Preis ist, wenn wir selbst einen Cênter erschaffen. Wenn wir uns alle vereinen wollen, brauchen wir mehr als die Magie des Mondsteins.
Dann muss ich jemanden opfern, den ich liebe.