Kapitel 82
Zélie
Auf den Bergpfaden am Rand von Ibadan werden die Versprechen, die ich in meiner Rede gegeben habe, übermächtig. Ich lasse eine Reihe von Pyramiden-Ahérés hinter mir und denke an all die Maji, die sich diesem Kampf verschrieben haben. An das eine Leben, das wir opfern müssen.
Tzain werde ich nicht aufgeben, Roën ebenso wenig. Es gibt nur noch einen weiteren Menschen, den ich liebe, auch wenn er uns verraten hat.
Ich bin auf dem Weg zu Amari, die in den Bergen gefangen gehalten wird. Angst macht mir die Beine schwer, ich werde immer langsamer. Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll. Wie ich ihr jemals vergeben soll, was sie getan hat.
Auch wenn alle wieder leben, die sie getötet hat, hat sie sie doch geopfert. Sie hat mich geopfert. Es war ihr egal, wer leiden musste, Hauptsache, sie räumte den Weg zum Thron frei …
Plötzlich höre ich Stimmen. »Was soll das heißen, es ist vorbei?«
Ich bleibe stehen und drücke mich dicht an die Felswand. Hinter der nächsten Biegung unterhalten sich Männer. Eine tiefe Stimme dringt an mein Ohr. Ich hatte nicht erwartet, sie noch einmal zu hören.
Harun. Ich kauere mich hin und spähe um die Ecke. Der untersetzte Söldner ist einer von sechs aus Roëns Truppe. Alle sind schwarz gekleidet.
»Du hast mich verstanden«, erwidert Roën.
Ich presse die Hand aufs Herz. Roën sitzt auf einem Felsen vor seinen Männern, erschöpft vornüber gebeugt.
Bei seinem Anblick löst sich in meiner Brust ein Druck, von dem ich gar nichts geahnt habe. Roëns Wangen sind eingefallen, seine Stimme ist schwach, aber er lebt.
Er ist da.
»So geht das nicht«, faucht Harun und bleckt seine gelben Zähne. »Wir haben den Lohn bereits bekommen. Du kannst nicht einfach aufhören, was du begonnen hast.«
Obwohl die anderen Söldner drohend näher rücken, beachtet Roën sie nicht. Er holt einen Feuerstein aus Haruns Tasche und entzündet ihn umständlich mit seiner linken Hand. Sein Metallarm hängt starr hinunter. Nur gelegentlich zucken seine Finger.
»Du hast wohl vergessen, dass ich mich nicht gern wiederhole«, sagt Roën. »Es ist mir egal, was los ist. Macht dem ein Ende. Jetzt.« Er greift in die Tasche eines anderen Söldners und zieht eine Zigarette heraus, die er sich zwischen die Lippen steckt. Bevor er sich ein Streichholz anzünden kann, schlägt Harun ihm die Zigarette aus dem Mund.
»Hat sie dich kastriert, bevor oder nachdem sie dir den Arm abgeschnitten hat?«
Ich beginne vor Wut zu schäumen, doch Roën blinzelt nur. Seine Muskeln sind angespannt, wie eine Marionette, deren Fäden angezogen werden.
»Geschieht dir recht.« Harun schüttelt den Kopf. »Wäre gar nicht nötig gewesen, dich anzulügen, damit du den Auftrag erledigst.«
Roën blinzelt wieder, und man sieht ihm an, dass er etwas begreift. »Du wusstest, dass Nehanda lügt?« Er senkt die Stimme. »Du hast mir absichtlich falsche Informationen gegeben?«
»Du bist zu weich geworden«, sagt Harun. »Zu weich, um unser Anführer zu sein.« Er steckt sich eine Zigarre an und schiebt sie Roën in den Mund. »Betrachte das als Abschiedsgeschenk. Du bist raus.«
Roën hebt die Hand. Doch er schlägt nicht zu. Er nimmt einen langen Zug von der Zigarre und schließt beim Ausatmen die Augen. Nach langem Schweigen nickt er Harun zu. Der grinst triumphierend mit seinen gelben Zähnen.
Da schlägt Roën zu.
Es geht blitzschnell, wie eine Viper, die zubeißt. Harun liegt bäuchlings auf dem Boden, Roën drückt ihm seine Metallhand in den Nacken.
»Lass mich los!«
Harun windet sich, doch Roën grinst und zieht wieder an der Zigarre. Er nimmt sie aus dem Mund und drückt die brennende Spitze in Haruns Nacken.
Ich zucke zusammen.
Harun windet sich wie ein an Land gespülter Fisch, doch je mehr er um sich schlägt, desto stärker drückt Roën zu. Die anderen Söldner sehen wie versteinert zu, unsicher, was sie tun sollen. Ich begreife, wie Roën seine Truppe geführt hat. Warum seine Leute so lange gebraucht haben, um sich gegen ihn aufzulehnen.
»Du bist ganz schön aufsässig geworden, während ich weg war, Harun«, sagt er grinsend. »Das gefällt mir. Noch ein paar Jahre Übung, dann kaufe ich es dir vielleicht sogar ab.« Der Schläger schreit wie am Spieß.
Roën steckt sich die Zigarre wieder zwischen die Lippen und nimmt einen Zug. Er legt den Kopf in den Nacken und genießt den Geschmack. Haruns Körper erschlafft vor Erleichterung.
Erneut drückt Roën das brennende Ende auf Haruns Haut.
»So. Das ist keine Bitte, weil ich niemals jemanden um etwas bitte«, zischt Roën. »Ich habe gesagt, zieht euch zurück. Hast du mich verstanden?«
»Ja!«, japst Harun und stöhnt.
»Entschuldigung, ich habe dich nicht verstanden.«
»Wir ziehen uns zurück!« Harun zappelt. »Wir ziehen uns zurück!«
Roën schnippt die Zigarre fort und erhebt sich. Harun rollt sich über den Boden, er hat Brandwunden im Nacken.
»Nimm die Leute mit!«, faucht Roën. »Ich hab keine Lust mehr, in der Höhle herumzuhängen. Aber wenn ich auch nur ansatzweise höre, dass du dich meinen Anordnungen widersetzt, hänge ich dich an deinen eigenen Eiern auf!«
Bei seiner eisigen Stimme zieht sich mir der Magen zusammen. Seine sturmgrauen Augen sagen mir, dass er nicht blufft. Ich sehe keine Spur des zärtlichen Mannes, der mit meinem Herzen verbunden ist.
Die Söldner schleppen den verwundeten Harun den Bergpfad hinunter. Roën bleibt zurück. Seine harte Fassade bekommt Risse, er beugt sich vor und greift sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die verwundete Schulter.
»Du brauchst dich nicht mehr zu verstecken!«, ruft er.
Ich trete hinter dem Vorsprung hervor.
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«
Er legt zwei Finger aufs Herz. »Es hat schon immer schneller geschlagen, wenn du in der Nähe bist. Jetzt schlägt es auch noch lauter.«
Ich weiß, wovon er spricht. Wenn ich ihm nah bin, ist es, als sei ein Kolibri in meinem Brustkorb eingesperrt.
Er humpelt zurück zum Felsvorsprung und setzt sich darauf. Ich würde ihn so gerne umarmen. Aber die Zigarre qualmt noch auf dem Boden. Der Geruch verbrannter Haut hängt in der Luft.
»Um was ging es?«, frage ich.
»Nichts.« Roën hebt die Zigarre auf und zieht daran. »Egal.«
»Willst du wirklich aufhören?«
»Ich kann sie nicht mehr anführen, selbst wenn ich wollte.« Beim Ausatmen schließt er die Augen. »Ich habe mich und meine Männer in Gefahr gebracht, weil ich mich in dich verliebt habe.«
Er sagt es so, als sei es das Einfachste der Welt. So normal wie die Berge um uns herum.
»Keine Sorge«, fügt er hinzu. »Nach dieser kleinen Vorstellung erwarte ich nicht, dass du dasselbe für mich empfindest.«
»Ich wusste schon vorher, dass du ein Söldner bist«, flüstere ich.
»Aber du musstest noch nicht mitansehen, was das bedeutet.«
Ich trete näher heran, denke darüber nach. Auf dem Kriegsschiff waren wir mit Roën unterwegs. Während des Rituals herrschte Krieg. Wann immer er mir geholfen hat, hat er mich vor der Wahrheit geschützt, obwohl wir sie eigentlich beide kennen. Jetzt ist Schluss mit dem Versteckspiel.
Das Monster ist frei.
»In den Bergen hast du mir von deiner Mutter erzählt«, sage ich. »Dass sie dir vorgesungen hat. Du hast mir das Lied vorgesummt.«
Roën senkt den Kopf und streckt die Hand nach mir aus. Ich verschränke die Finger mit seinen.
»Warum?«, frage ich.
»Es war eine schöne Erinnerung.« Er zuckt mit den Schultern. »Sie war eine schöne Erinnerung.«
Er schaut mich an, und ich sehe das Herz, das er angeblich nicht besitzt. Ich kann mich nicht länger beherrschen und ersticke jeglichen Widerspruch, indem ich meine Lippen auf seine drücke.
Roëns Umarmung jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich greife in seine Haare. Seine Metallfinger sind kalt auf meiner Haut. Er hat eine Art, mich zu halten, bei der die Zeit stillsteht.
»Zïtsōl …« Er löst sich von mir und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Ich senke den Blick und trockne meine Augen. Ich weiß gar nicht, wann ich angefangen habe zu weinen.
Roën streichelt die Stelle hinter meinem Ohr, ich lehne die Stirn gegen seine, nehme die linke Hand von seiner Schulter und berühre die Stelle, wo der Metallarm beginnt.
»Tut das weh?«, frage ich.
»Nur, wenn ich atme.«
»Du mit deinen Scherzen.« Ich schüttele den Kopf.
»Wenn du keine Witze mehr hören willst, hättest du mich ertrinken lassen sollen.«
Ich lächele ihn an und küsse seine hellroten Lippen. »Nächstes Mal überlege ich es mir zweimal, bevor ich dir das Leben rette.«
»Solange du noch Rückmeldungen entgegennimmst: Ich habe auch meine Grenzen. Wenn du dich jemals zwischen meinem Leben und irgendeinem Körperteil entscheiden musst, beantrage ich hiermit, dass du mich sterben lässt.«
»Bei den Göttern!« Ich schiebe ihn von mir.
»Wie sagt man noch mal in euren Landen?« Roën legt den Kopf schräg. »Erst probieren, dann abschneiden.«
»Nächstes Mal lasse ich dich wirklich ertrinken.«
Lachend zieht er mich wieder an sich und legt die Hand auf meinen Rücken. Drohend steigt das Ende des Kriegs zwischen uns auf. Roëns Lächeln verschwindet.
»Ich habe gehört, dass du die Welt retten willst«, sagt er. »Wann geht es los?«
»In ein paar Stunden.«
»Okay.« Er nickt. »Ich komme mit.«
»Nein.« Ich entziehe mich ihm. »Du musst gesund werden!«
Roën steht auf. Er beißt die Zähne aufeinander und hält sich die Schulter.
»Roën …«
»Ich komme mit.« Seine Metallfinger zucken, sie gehorchen seinen Befehlen noch nicht. »Zïtsōl, du bist meine Heimat. Du kannst mich nicht zurücklassen.«