Kapitel 83
Amari
Ich werde eine bessere Königin sein.
Wieder denke ich an die letzten Worte, die ich zu Vater sagte. An den Schwur des Menschen, der ich mal war. Er verhöhnt alles, was aus mir geworden ist.
Ich weiß nicht, ob Vater angesichts dessen entsetzt wäre, was ich getan habe, oder ob ihn mein tiefer Absturz stolz gemacht hätte. Ich bin nicht besser als er.
Wir stehen uns in nichts nach.
Stoß zu, Amari!
Ich raufe mir die Haare. Wenn ich mich doch aus seinem klauenartigen Griff befreien könnte! Vaters Geflüster gleicht den Gitterstangen, die Kâmarū aus Stein um mich herum geformt hat. Es ist ein Gefängnis, dem ich nicht entrinnen kann. Lange Zeit war Vater die Narbe auf meinem Rücken. Der Tyrann, den ich bezwingen musste.
Wie konnte ich um der Himmel willen zulassen, dass sein Geist zu meinem Leitstern wurde?
Ich beiße die Zähne aufeinander und schlucke die Galle wieder hinunter, die mir im Hals aufsteigt. Obwohl ich nichts im Magen habe, kommt alles gleichzeitig heraus. Ich spüre jeden Schmerz, den ich verursacht habe. Jede verkohlte Leiche. Auch wenn ich gute Absichten hatte, bin ich doch nur eine Regentin, die ihr Königreich terrorisiert.
Ich selbst bin das Ungeheuer, das ich vernichten will.
»Wenigstens sieht es aus, als würde es dir endlich leidtun.«
Mein Kopf fährt hoch; Zélie steht auf der anderen Seite der Steinsäulen. Der Berg taucht die Hälfte ihres Gesichts in Schatten, doch in ihr scheint etwas zu leuchten.
»Den Göttern sei Dank, es geht dir gut …« Ich stütze die Hände auf. Nein, Zélie geht es nicht einfach nur gut. Es ist, als würde ein neues Feuer in ihr brennen. Sie strahlt so eine Hitze aus, dass meine Haut kribbelt.
»Wenn du gewusst hättest, dass ich noch lebe und in Ibadan bin, hättest du das Dorf dann trotzdem angegriffen?«, fragt sie.
Ich sacke in mir zusammen. Die Wahrheit nimmt mir die letzte Würde, die ich noch habe.
»Um diesen Krieg zu gewinnen?« Ich schließe die Augen. »Ja.«
Schnell schlage ich die Hand vor den Mund, weil ich nicht weiß, ob ich mich nochmals übergeben oder schreien muss. »Es gibt keine Entschuldigung für meine Tat. Ich weiß, dass du mir nicht verzeihen kannst.«
Zélie anzusehen ist so, als ob ein Vorschlaghammer mein Herz zertrümmern würde. Ich bin gezwungen, mich der Wahrheit zu stellen, die ich um jeden Preis verbergen wollte.
Ich bin das Kind von König Saran. Die Tochter von Königin Nehanda.
Ich wurde so erzogen, dass ich gewinnen will, koste es, was es wolle. Egal, wer dabei verletzt wird.
»Wir haben sie zurückgeholt.« Zélie verschränkt die Arme vor der Brust. »Eigentlich kann es dir egal sein, aber alle Menschen, die du umgebracht hast, atmen wieder.«
»Was?« Ich schüttele den Kopf, unsicher, ob ich sie richtig verstanden habe. »Sie leben?«
»Jeder Einzelne.«
Ich taumele, der Boden unter mir scheint sich aufzutun. Vor Erleichterung kann ich kaum einen Gedanken fassen. Ich mag es kaum glauben. Tränen rinnen mir über die Wangen.
»Wie denn?«
»Wir haben uns über die Magie des Mondsteins miteinander verbunden. Durch unsere vereinten Kräfte konnte Khani die Toten heilen. Ich habe sie dann ins Leben zurückgeholt.« Zélie betrachtet die goldenen Tätowierungen auf ihrer Haut und sieht dort etwas, das mir verborgen bleibt. »Mit diesen Kräften werden wir Lagos angreifen und die Monarchie stürzen.«
Ich stehe auf, auch wenn sich meine Beine anfühlen wie aus Gummi. »Ihr werdet niedergemetzelt werden.«
»Nicht, wenn wir uns alle miteinander verbinden. Wir werden diesen Krieg beenden und die Monarchie ein für alle Mal zerstören. Selbst Nehanda wird uns nicht aufhalten können.«
Stoß zu, Amari!
Vaters Worte verklingen in mir. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was ich empfinden soll. Mit dem Thron hat alles begonnen. Vielleicht muss dort auch alles enden. Aber die Vorstellung, dass die Krone zu Staub wird …
»Ihr werdet Orïsha ins Chaos stürzen.« Ich schüttele den Kopf. »Welches Leid ihr verursachen werdet …«
»Angst und Anarchie sind weitaus besser als die Tyrannei, in der wir jetzt leben«, gibt Zélie zurück. »Die Zukunft von Orïsha wird nicht mehr von einer Krone verdorben werden.«
Sie runzelt die Stirn. Ich sehe das Mitleid in ihrem Blick.
Sie meint mich. Ich wurde durch die Krone verdorben.
Ich werde eine bessere Königin sein …
Ich verabschiede mich von dem Schwur, den ich niemals werde erfüllen können. Ich habe mehr als diesen Krieg verloren.
Ich habe das Recht verloren, irgendwen zu führen.
»Wann wollt ihr los?«, frage ich.
»Heute Abend.«
»Und zuerst verbindet ihr euch miteinander?«
Zélie will etwas sagen, bringt es jedoch nicht heraus. Da wird mir klar, warum sie hier ist.
»Ihr braucht ein Opfer.«
Sie reibt sich über die Arme und wendet den Blick ab, schaut in die Ferne.
Der Wind gibt mir die Antwort.
Es ist, als würde der gesamte Berg um mich herum einstürzen. Panik erfasst mich. Ich kann kaum noch atmen.
Doch meine Bestrafung ist auch eine gewisse Befreiung. Eine Chance, mit der ich nicht mehr gerechnet habe. Wenn ich das tue, kann ich etwas wiedergutmachen.
Ich kann ihnen die Kraft schenken, die sie brauchen, um das Königreich zu retten.
»In Ordnung.«
Zélie schnellt herum, Verwunderung steht in ihrem silbernen Blick geschrieben. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Das brauchst du auch nicht. Ich nehme dir die Entscheidung ab.«
Bei den Worten macht mein Herz einen Satz. Meine Hände beginnen zu zittern. Doch wie sonst soll ich den ganzen Schmerz wiedergutmachen, den ich verursacht habe?
»Nein.« Zélie schüttelt den Kopf.
»Ich habe gar keine andere Wahl«, sage ich. »Irgendjemand muss es tun. Jemand, den du liebst.«
Auch wenn sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen, zuckt ihr Mund. Fast schmerzt das Wissen mehr, dass ich ihr nach allem, was ich getan habe, immer noch etwas bedeute.
»Bitte, Zélie.« Ich umklammere die Steinstäbe. »Lass mich einmal etwas richtig machen.«
»Das kann ich nicht zulassen.«
»Musst du auch nicht«, erklingt eine andere Stimme.
Wir sehen uns beide um. Eine Gestalt in einem Mantel kommt näher, begleitet vom gleichmäßigen Klopfen eines Holzstocks. Als sie aus dem Dunkel tritt und beide Hände auf ihren Gehstock stützt, fällt mir die Kinnlade hinunter.
»Mama Agba?«
Die Seherin weicht unseren Blicken aus. Sie verbreitet Traurigkeit.
»Deine Zeit ist noch nicht gekommen, mein Kind. Nehmt mich!«