Kapitel 84
Zélie
Wenn der Anblick von Mama Agba mich zuerst erleichtert hat, so bin ich nun völlig aufgelöst.
»Nein!«
»Das steht nicht zur Diskussion.« Die alte Seherin schüttelt den Kopf. »Viel zu viele Kinder sind in diesem Krieg umgekommen.«
»Ich habe nein gesagt!« Ich wende mich ab. »Ich finde schon eine Lösung. Ich brauche nur ein bisschen Zeit.«
»Genau die hast du aber nicht.« Mama Agba packt mich an der Schulter und zwingt mich, mich zu ihr umzudrehen. »Nehanda hat bereits das Ende des Kriegs erklärt. Die Maji, die sie gefangen genommen hat, werden in wenigen Tagen exekutiert.«
»Mama Agba …«
»Tí o ò bá pa enu ù rẹ mọ!« Sie hebt ihren Stock über meinen Kopf. »Halt den Mund und hör zu!«
Instinktiv zucke ich zusammen, habe Angst, dass sie zuschlägt, wie früher beim Training. Mit geweiteten Nasenflügeln nimmt sie den Stock herunter und humpelt auf mich zu. Als sie vor mir steht, kann ich ihr nicht in die Augen sehen. In meiner Kehle brennen die Worte, die ich lieber nicht gesagt hätte.
»Guck mich an!« Sie legt mir ihre faltige Hand auf die Wange. »Zélie, sieh mich an! Du bist mein Herz. Auf dieser Welt gibt es nichts, was ich dir nicht verzeihen würde.«
Sie schließt die Arme um mich und umhüllt mich mit dem Duft ihres gesüßten Tees.
»Das werde ich nicht zulassen.«
»Du hast keine Wahl«, sagt sie. »Unser Volk braucht dich.«
»Dich braucht es mehr.« Ich klammere mich an die Falten ihres Umhangs und denke an alles, was Mama Agba aufgebaut hat. Alle, die sie gerettet hat. Die Maji wären schon zehn Mal ausgestorben, wenn Mama Agba sich nicht so für sie eingesetzt hätte. Meine gesamte Familie wäre nicht mehr.
Sie nimmt meine Hand in ihre. Mein Widerspruch verstummt. Ohne etwas zu sagen, führt sie mich den gewundenen Pfad hinunter, fort von Amari. Sie schaut in die Wolken, die über den Bergvorsprung ziehen.
»Kannst du dich erinnern, was ich dir von meiner Ìsípayá erzählt habe?«, fragt sie. »Als ich vor vielen Jahren zur Ältesten aufstieg, hatte ich die Vision, dass ich auf einem Berg kniete und die Himmelsmutter mich mit ausgebreiteten Armen in Empfang nahm.« Sie sieht mich mit leuchtenden mahagonibraunen Augen an. »Damals dachte ich, ich würde ins Jenseits schauen. Jetzt weiß ich, dass die Vision dich zeigte.«
Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn und wischt mit ihrem Gewand meine Tränen fort. Ich schluchze in ihren Armen, wehre mich dagegen, dass sie sich für uns opfern will.
»Ich kann das nicht.« Meine Stimme bricht. »Das schaffe ich nicht alleine.«
»Das brauchst du auch nicht. Du trägst uns alle in deinem Herzen.« Sie nimmt meine Hand und legt sie auf meine Brust, wo sie unsere Finger miteinander verschränkt. »Wir werden in jedem Atemzug von dir leben. In jeder Beschwörung, die du singst.«
Ein Lächeln zieht sich über ihr dunkles Gesicht und legt die Haut um ihre Augen in Falten.
»Ihr seid die Kinder der Götter. Ihr werdet nie allein sein.«
Als ich den Gipfel erreiche, ist es so still, dass meine Schritte laut durch die Berge hallen. Die Ältesten bilden einen Kreis. Amari steht hinter Tzain, die Arme noch immer in Ketten.
Mit einer Verbeugung treten die Maji zurück und machen den Weg frei. Dann formen sie wieder ein perfektes Rund.
Es fehlt nur die Mitte.
Du schaffst das. Ich grabe meine Fingernägel in die Handflächen und trete vor. Spitz zulaufende Säulen bilden einen Kreis um uns herum, sie umgeben uns wie ein Zaun. Hinter dem Blutstein taucht die untergehende Sonne den Himmel in leuchtende Rot- und Orangetöne. Sie erinnern mich an die Zeit, als Mama diesen Weg nahm, um sich auf die Führung der Seelenfänger von Ibadan vorzubereiten.
Du trägst uns alle in deinem Herzen. Wir werden in jedem Atemzug von dir leben. In jeder Beschwörung, die du singst.
Mama Agbas Worte summen in mir, während ich daran denke, wie die Sonne durch Mutters Locken schien. Heute fällt sie auf meinen Schopf und taucht mein weißes Haar in Gold. Ich halte die Luft an und trete in die Mitte des Kreises.
Dakarai geht zu Mama Agba und geleitet sie hinein. Sein rundes Gesicht ist ernst. Als ihr Gehstock auf den harten Stein klopft, steigt der Druck in meiner Brust. In dem Moment, als ich sie ansehe, brechen alle Dämme in mir. Ich kann meine Tränen nicht länger zurückhalten.
Mama Agba trägt eine glänzende Rüstung mit einem schimmernden silbernen Kragen um den Hals. Darüber weht ein Seidenumhang wie eine Wolke im Wind. Kâmarū hat ihr einen glänzenden Stock gefertigt. Ihre weißen Locken liegen wie eine Krone auf ihrem Kopf.
Nie war sie schöner.
»Nana …« Leise singt Na’imah das Lied der Himmelsmutter. Als die anderen in die wunderschöne Melodie einfallen, schließt Mama Agba die Augen und legt die Hände auf ihr Herz. Sie nimmt alles in sich auf und dreht sich dann zu Dakarai um.
»Mein Ältester«, spricht sie ihn an und wischt die Tränen von seinen rotbraunen Wangen. »Du bist der Traum unseres Volks. Zweifle nie an dem, was du erreichen kannst. Vertraue darauf, was du siehst.«
Dakarai nickt und fährt sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. Mama Agba küsst ihn auf die Stirn und drückt ihn ein letztes Mal. Ich rechne damit, dass sie weitergeht, doch sie wendet sich an Kâmarū. Vor jedem Einzelnen im Kreis bleibt sie stehen und schenkt ihm eine letzte Weisheit. Selbst in ihren wenigen verbleibenden Minuten leitet sie uns.
Eine Seherin bis zum Schluss.
»Mein mutiger Junge.« Mama Agba zieht Tzain liebevoll am Ohr. »Du bist ein noch mutigerer Mann geworden.«
Tzain muss trotz seines Kummers lächeln. Er wischt sich über die Augen und nimmt ihre Hand.
»Danke für alles.«
Sie zieht ihn an sich und streicht ihm über den Rücken. »Pass auf die beiden auf. Aber vergiss dabei nicht, auf dich selbst zu achten.«
»Tu das bitte nicht!« Amaris Stimme bricht vor Trauer, als Mama Agba vor sie tritt. Sie lässt den Kopf hängen, die Metallketten klirren an ihren Handgelenken.
»Dich macht mehr aus als deine Fehler.« Mama Agba legt die Hände auf Amaris Schultern, worauf sie nur noch heftiger weint. »Lass dich nicht von einem einzigen Moment bestimmen oder zerstören. Die Götter haben ihre eigenen Pläne. Vertraue auf ihre Weisheit.«
Amari nickt, und Mama Agba küsst sie auf die Wange. Ich versuche, mich für den Abschied zu wappnen, doch es will mir nicht gelingen. Mama Agba sieht mich an. Ein Lächeln bringt ihre dunkle Haut zum Strahlen. Sie bewegt sich mit unverwüstlicher Zielstrebigkeit, bereit für das, was kommt. Hinter ihr geht die Sonne unter
»Meine kleine Kriegerin.« Zum ersten Mal werden ihre Augen feucht. Sie hebt mein Kinn an und drückt meine Schultern nach hinten. »Die gar nicht mehr so klein ist.«
»Mama Agba …« Ich will etwas sagen, finde aber nicht die richtigen Worte. Wie oft ich mir auch zurede, dass ich es schaffe, bin ich doch nicht bereit, mein eigenes Herz in Stücke zu reißen.
»Denk daran, was ich dir gesagt habe!« Sie wischt meine Tränen fort und legt ihre Hand auf meine Brust. »Bei jedem Atemzug, jeder Beschwörung ist jemand bei dir. Du kämpfst mit dem Herz deines Vaters. Mit dem Geist deiner Mutter. Wenn das hier vorbei ist, werde auch ich mit dir kämpfen.«
Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn und nimmt meine Hand. Ich halte sie fest in den Armen und bemühe mich, ihre Umarmung zu genießen. Ich versuche, mir jede Falte in ihrem Gesicht einzuprägen. Atme den Duft der Sheabutter in ihren Haaren ein.
Als ich sie nicht länger halten kann, senkt sie den Kopf und kniet sich hin. Zitternd greife ich nach ihrer Hand und zücke meinen Dolch.
»Fang an!«
Ich ziehe die Klinge über ihre Handfläche, und ein schmaler Streifen Blut erscheint. Er läuft über ihre Hand und leuchtet weiß. Ich male Mama Agba mit dem Daumen das heilige Zeichen auf die Stirn. Sie atmet aus. Ich lege ihre Hand auf mein Brustbein und flüstere den Befehl.
»Ẹ tọnná agbára yin.«
Als die Blutmagie zu wirken beginnt, flammen die Tätowierungen auf meinem Rücken auf. Der erste Blutstropfen von Mama Agba fällt zu Boden. Sie keucht. Knisternd und qualmend versickert er im Stein.
Weißes Licht breitet sich aus und überzieht den Kreis wie ein Spinnennetz. Als es die Maji um mich herum erreicht, dringen zehn verschiedene Herzschläge an mein Ohr.
Padamm.
Padamm.
Jeder Herzschlag dröhnt wie Donner. Das Klopfen beschwört einen Sturm herauf. Heulende Winde umwirbeln uns. Als die Lebenskraft an die Oberfläche gerufen wird, bilden sich vor jedem Einzelnen weiße Lichtpunkte. Sie schweben wie Glühwürmchen in der Nacht und werden durch meinen Gesang immer heller. Dann fangen sie an, sich zu Strängen zu verflechten, und kommen auf mich in der Mitte zu.
»Ẹ tọnná agbára yin.«
Meine Tätowierungen leuchten heller, als sie je waren. Die Teilchen verdichten sich immer mehr. Die Magie verwebt sich wie Fäden in einem Gobelin. Als sie auf meine Brust trifft, verrenkt sich mein Körper.
Die Kraft hebt mich hoch, Mama Agba ebenso, wir schweben über dem Boden. Ihre Hände fallen herab, ihr Oberkörper steigt noch höher. Der Wind fängt sich in ihrem Seidenumhang.
»Ẹ tọnná agbára yin.« Es tut weh, die Formel auszusprechen. Die Blutmagie verbreitet sich in Mama Agbas Körper, leuchtet in jeder Ader. Als sie ihr Herz erreicht, strahlt sie am hellsten. Dann zerstört sie Mama Agba.
Ihr Gesicht wird dunkler, schwärzer als die Nacht. Lichtteilchen leuchten durch ihre Rüstung und die Seide, glühen wie in ihre Haut geprägte Sterne.
Der Raum zwischen den einzelnen Herzen wird kleiner. Bei jedem Schlag werden sie langsamer, bis alle im selben heiligen Rhythmus klopfen. Wieder spreche ich die überlieferten Worte: »Ẹ tọnná agbára yin.«
Das Licht um Mama Agba wird zu hell zum Hineinschauen. Sie erleuchtet die Nacht wie ein durch den Himmel fliegender Komet.
Ich merke es nicht, als meine Füße wieder auf dem Boden aufsetzen. In meiner Brust tobt eine Kraft wie die eines Gewitters. Jeder Pulsschlag fährt wie ein Blitz durch mein Blut.
Die Kraft von zehn Herzen, die wie eins schlagen.
Ich drücke die Hand auf meine Brust und sehe hoch. Irgendwie kann ich den Puls von Mama Agbas Liebe spüren. Tränen rinnen mir über die Wangen, dennoch muss ich lächeln.
»Títí di òdí kejì« , flüstere ich vor mich hin und hebe ihren Gehstock auf.
Ich werde dich nicht enttäuschen.