Kapitel 86
Zélie
Wir segeln an Orïshas Küste in einem Boot entlang, das Nâo mit ihrem Wind antreibt. Niemand sagt ein Wort. Es ist nicht nötig, denn alle spüren die Herzschläge der anderen in der Brust. Die Meeresgischt legt sich auf unsere Haut, salzige Luft peitscht uns ins Gesicht. Eine neue Magie rauscht durch unsere Adern, bereit, Lagos’ undurchdringliche Mauern zu zerstören.
Bei jedem Herzschlag. Jeder Beschwörung.
Ich klammere mich an Mama Agbas Worte, während wir uns meiner alten Heimat nähern. Die Melodie des Wassers trägt mich zurück auf Babas Boot, zu den Morgen, wenn wir gemeinsam das Netz einholten. Mit diesen Gedanken im Herz drehe ich mich zu den anderen um, damit ich nicht die Überreste unseres Dorfes Ilorin sehen muss. Noch eine Nacht, dann wird unser Königreich nicht mehr dasselbe sein.
»Es ist nicht mehr weit«, sage ich. »Bis zum Sonnenuntergang können wir uns an dieser Küste verstecken.«
Und dann schlagen wir zu , denke ich. Wir retten unser Volk und lassen die Monarchie für all den Schmerz büßen, den sie uns zugefügt hat.
Ich denke an Mári und Bimpe, die mit den anderen im Verlies des Palastes gefangen sind; an alle Iyika, die ihrer Hinrichtung entgegensehen. Ich denke auch an all jene, die uns im Weg sind. An jeden Tîtánen, der sterben muss.
»Ruht euch aus!«, befehle ich. »Bereitet euch vor. Niemand weiß, was passiert, wenn wir den Palast stürmen …«
»Zél!«, ruft Tzain. Ich sehe zu ihm hinüber. Mit zusammengezogenen Augenbrauen folge ich seinem Blick und traue meinen Augen nicht.
Ich begebe mich in den Bug des Boots.
Dort, wo Ilorin im Wasser stand, ragt nun eine einzelne Ahéré aus dem Wasser.
Verwirrung macht sich breit. Nâo steuert uns näher heran, damit wir die Hütte besser sehen können. Erinnerungen an das brennende Ilorin benebeln meine Gedanken. Ich weiß noch gut, wie die beißende Asche mich fast erstickte.
Das gesamte Dorf sank auf den Grund des Meeres. Unsere Hütte brach zusammen. Doch aus irgendeinem Grund steht sie jetzt dort über den schäumenden Wellen, unbeeindruckt von allem, was passiert ist, seit ich sie zurücklassen musste.
Wir erreichen die Schilfhütte, Tzain und ich steigen aus. Die Ältesten bleiben im Boot. Es ist wie im Traum.
Ein Traum oder Albtraum.
Unser ehemaliges Heim steht auf Holzbrettern, ein Leuchtturm inmitten des Meeres. Man sieht keine Spur des Feuers, das es niederbrannte. Keine Spur von dem, was wir verloren haben. Doch diese Hütte zu sehen, die wir mit Baba teilten, ist so, als würde ich ein fehlendes Teil von mir finden.
Den Arm unter Tzains geschoben, gehe ich näher heran, rechne damit, dass sich die Illusion auflöst. Es ergibt keinen Sinn. Die Hütte sieht aus, als hätte es nie ein Feuer gegeben.
Tzain betastet den Türrahmen, und ich finde die Kerben, die Baba immer über unseren Köpfen hineingeschnitten hat. Jeden Monat markierte ein neuer Strich unsere Größe. Ich weinte oft, weil meine Kerbe nie an die von Tzain heranreichte.
»Das verstehe ich nicht.« Mit angehaltenem Atem gehe ich durch die Tür. Die Schilfwände bilden einen Kreis um mich, Schilf, das genauso aussieht wie das, was Baba und ich liebevoll geflochten hatten. Alles ist da: die Baumwollbetten, der Agbön-Ball in der Ecke. Selbst schwarze Callas stehen im Fenster. Die Blüten fühlen sich an wie Samt, die Stängel sind frisch abgeschnitten.
Das Einzige, was früher nicht da war, ist das in Pergament gewickelte Päckchen auf meinem Bett. Darauf liegt eine Nachricht. Ich falte sie auf:
Es tut mir leid.
Ich habe das Gefühl, zu ertrinken. Als ich mich an die Worte erinnere, die Inan mir vor mehreren Monden sagte, tut sich ein Abgrund in meiner Brust auf.
»Wenn das alles hier vorbei ist, werde ich Ilorin neu aufbauen« , hatte er gesagt. »Das wird das Erste sein, was ich tue.«
Inan versprach mir, meine Heimat zurückzuholen. Niemals hätte ich gedacht, dass er Wort hält. Mit zugeschnürter Kehle binde ich das Päckchen auf. Mehrere Briefe fallen zu Boden. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Warum? Die Frage hallt mir durch den Kopf. Ich bücke mich, um einen Brief aufzuheben, und wappne mich für das, was darin stehen mag.
Es gibt Nächte, in denen du mich in meinen Träumen besuchst. Nächte, in denen ich vergessen kann.
Aber wenn ich erwache, treibt mich der Gedanke fast in den Wahnsinn, was hätte sein können …
Mir schnürt sich die Kehle zu, ich werfe den Brief fort. Geh , befehle ich mir. Doch schon lockt mich der nächste.
Die ganze Zeit dachte ich, das Königreich sei wichtiger als mein Herz. Das war naiv. Ich war zu blind, um zu erkennen, dass du beides bist …
Tränen tropfen auf das Pergament, lassen die Tinte verschwimmen. Wie kann er es nach all den Schmerzen, die er mir zugefügt hat, wagen, sich wieder in mein Herz zu stehlen?
Ich schleudere die Briefe weit von mir und wünschte, Kenyon wäre hier, um sie zu verbrennen. Ein Brief macht beim Auftreffen ein klirrendes Geräusch. Ich schaue genauer hin, hebe ihn auf und öffne das Pergament. Eine Bronzemünze fällt mir in die Hand. Mit seitlich geneigtem Kopf hebe ich sie an ihrer Silberkette hoch.
Dann erinnere ich mich an die Münze, die ich Inan schenkte …
»Was ist das?« , fragte er.
»Etwas, mit dem du spielen kannst, ohne dich zu vergiften.«
Ich legte ihm das billige Metall in die Hände.
Hat er die Münze die ganze Zeit behalten?
Tränen rinnen mir über die Wangen, ich öffne das Pergament.
Mir ist bewusst, dass dieser Brief vielleicht auf dem Meeresgrund endet. Aber vielleicht liest du ihn auch, deshalb muss ich dir schreiben.
Ich muss versuchen, es wiedergutzumachen.
Ich könnte mich bis ans Ende meiner Tage bei dir entschuldigen, und doch würde es nicht reichen. Aber es tut mir aufrichtig leid, dass ich dich verletzt habe. Ich bereue all den Schmerz, den ich verursacht habe.
Inzwischen habe ich begriffen, dass die Magie nie die Plage von Orïsha gewesen ist. Nein, wir sind es – Vater, Mutter, ich. Selbst Amari wurde von diesem Thron vergiftet. Die Monarchie verdirbt uns alle.
Solange der Thron steht, hat Orïsha keine Chance. Deshalb tue ich das einzig Richtige und werde diese Monarchie opfern.
Ich greife so heftig zu, dass das Pergament fast zerreißt. Ich wusste nicht, dass ein König selbst das Ende der Monarchie erklären kann.
Ich weiß nicht, wie es weitergeht, nur ist mir klar, dass diese Herrschaft keine Zukunft mehr hat. Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich das Königreich schützen und der Mann sein, der ich glaubte sein zu können, als ich mit dir zusammen war.
Sollten sich unsere Wege noch einmal kreuzen, werde ich nicht mein Schwert gegen dich erheben.
Ich bin bereit, mein Leben in deine Hände zu legen.
»Was ist das?« Tzain steht hinter mir. Ich wische meine Tränen fort und reiche ihm die Briefe. Mit großen Augen überfliegt er sie.
»Die hat er alle an dich geschrieben?«
Ich nicke. Tzain reibt sich das Kinn. »Ihr beide …« Er schüttelt den Kopf. »Selbst wenn ihr euch bekriegt, kommt ihr nicht voneinander los.«
Ich betrachte die Bronzemünze in meiner Hand und möchte sie am liebsten ins Meer werfen. Ich hasse Inan dafür, was er hier mit mir macht. Ich hasse den Teil von mir, der glauben will, dass er die Wahrheit sagt.
»Was willst du jetzt tun?«
»Was ich tun muss.« Ich zucke mit den Schultern. »Es interessiert mich nicht, was er schreibt oder verspricht. Unser Volk ist immer noch in den Mauern von Lagos gefangen. Ich muss alles in meiner Macht Stehende versuchen, um die Maji dort herauszubekommen.«
Schweigen breitet sich aus. Ich greife nach Tzains Hand und schaue auf das Pergament auf dem Boden. »Was machst du mit Amari?«
Tzains Gesicht verzieht sich. Er reißt sich zusammen, um nicht zu weinen, doch ich selbst habe Tränen in den Augen. Bei all dem Leid, das wir erdulden mussten, war sie die Einzige, die ihn zum Lachen brachte. Selbst wenn ich sie inbrünstig hasse, liebe ich sie dafür.
»Das mit Amari und mir, das ist vorbei«, sagt Tzain schließlich.
»Tzain, du kannst deine Gefühle für sie nicht einfach abstellen …«
»Sie hätte dich getötet«, unterbricht er mich. »Da gibt es keinen Weg zurück.«
Er lässt sich auf die Replik seines alten Bettes fallen. Ich setze mich neben ihn, umklammere die Bronzemünze und lege meinen Kopf an seine Schulter, um dem Rauschen der Wellen vor unserem Fenster zu lauschen.
»Das nächste Mal verlieben wir uns in Geschwister, die keine Krone tragen.«