Kapitel 87
Zélie
Wir stehen auf einem Hügel und blicken auf Lagos hinab. Der Wind zerzaust meine Haare. Gewitterwolken türmen sich über uns auf, lassen Regen auf uns herabprasseln.
Laternen tauchen die Hauptstadt in ein orangefarbenes Licht. Vor allen Türen blinken Laternen. Der Palast leuchtet am hellsten, geschützt hinter mächtigen Mauern.
»Bist du bereit?« Tzain stößt mich an. Ich nicke und schätze Lagos’ Verteidigungswall ab. Die graue Barriere rund um die Stadt ist etwa dreißig Meter hoch, fast zweimal so hoch wie die Bäume im Wald ringsum. Doch ich pfeife auf Tîtánen und Cênter! Heute Nacht werden wir nicht verlieren.
Wir tragen die Macht der Götter in uns.
Ich spüre sie mit jedem Herzschlag, jeder Beschwörungsformel auf meinen Lippen. Wir sind nicht mehr aufzuhalten.
Wir bringen ihnen den Krieg.
Ich drehe mich zu Amari um, die immer noch gefesselt ist. In sicherer Entfernung starrt sie zu Boden. Als ich Kâmarū ein Zeichen gebe, ihre Ketten zu lösen, rührt sie sich nicht. Roën steht neben ihr, wir nicken uns kurz zu. Ich richte den Blick wieder auf die Mauern von Lagos und wappne mich für das, was kommt.
»Für Mama Agba!«, rufe ich. »Und für Mâzeli!«
»Für Baba und Mama«, ergänzt Tzain.
»Und für Zulaikha und Kwame«, flüstert Folake.
Wir zählen alle Gefallenen auf, nennen die Namen derer, die uns von der Monarchie genommen wurden.
»Kämpft für sie!« Ich setze mich an die Spitze, meine Tätowierungen erglühen. Ihr violettes Licht umflackert meine Hände, taucht meinen gesamten Körper in tanzende Flammen. Als das Feuer auf die anderen überspringt, schließe ich die Augen und konzentriere mich auf das Geräusch unserer zwölf Herzen, die wie eins schlagen.
Als unsere Magie sich miteinander verbindet, bleibt die Zeit stehen.
Ich flüstere das Kommando: »Ẹ tọnná agbára yin.«
Die hervorschießende Energie ist so gewaltig, dass der Boden unter uns aufbricht. Steine und Erde wirbeln um unsere Füße. Die Rinde der Bäume in der Nähe platzt ab.
Die Welt bewegt sich in Zeitlupe, beleuchtet von den Regenbogenfarben, die aus unseren Augen und Mündern fließen. Die Kraft der Götter brodelt in unseren Körpern. Wir rutschen den Abhang nach unten.
Kâmarū und Kenyon treten vor. Kraftvoll strahlt die Ashê in ihren Körpern. Ein smaragdgrünes Licht schimmert unter der Haut des Erdsängers, der Flammentänzer leuchtet rot.
Gemeinsam drücken sie die Hände auf den Boden. Die Erde unter unseren Füßen bebt.
Als Kâmarū die Hand zur Faust ballt, hebt sich der gesamte Boden an.
Kenyon lässt eine Lavazunge hervorschießen, die sich über das Land wälzt.
Eine Majazitmine nach der anderen explodiert, schwarze Rauchpilze steigen auf. Die von Kâmarū und Kenyon freigesetzte Lava schiebt sich brodelnd über den Boden. Dunkle Rauchfahnen steigen in den Himmel.
»Verteidigung vorbereiten!«
Hornstöße verkünden unseren Angriff. Die erste Welle von Tîtánen greift an, Majazit wird freigesetzt. Doch bevor die Soldaten uns mit ihrem Gas erreichen, recken Jahi und Imani die Hände in die Höhe.
Auf den Befehl unseres Windflüsterers beginnt der Wind zu heulen. Die Siecherin verwandelt die schwarzen Majazitwolken vor unseren Augen in orangefarbene.
Der Schweiß auf meiner Haut wird eiskalt. Heftige Böen fegen über uns hinweg, so stark, dass Bäume in der Mitte brechen. Die Giftwolken drücken die golden glänzenden Soldaten gegen die Mauer. Blut schießt ihnen aus dem Hals, ihre Haut wird schwarz wie die der Bewohner von Ibadan.
»Lasst sie nicht durch!«, schreit ein Tîtán.
Eisen ächzt, Mündungen werden auf uns gerichtet. Entlang der Mauer blitzen Kanonen wie Feuerzungen auf. Bomben explodieren.
Die Soldaten werfen uns alles entgegen, was sie haben, doch es reicht nicht, um uns aufzuhalten. Kâmarū fängt jede Kanonenkugel mit einer lässigen Handbewegung ab. Wenn Jahi ein Geschoss wegpustet, schickt Kenyon eine Brandbombe zurück. Wir durchbrechen alle Verteidigungswälle, bis nur noch einer übrig ist: die Wand aus Soldaten selbst.
Uns läuft eine Legion von Tîtánen entgegen, schimmernd in ihren goldenen Rüstungen. Unzählige springen vom Wall herab, glühende Magie in den Händen. Durch die Kraft des Mondsteins spüre ich ihre Seelen wie Regentropfen auf der Haut.
Ich strecke die Hände aus, schließe die Augen und greife nach dem Leben, das durch ihre Adern läuft.
»Gan síb ẹ̀
Als ich die Hand hebe, erstarren alle Tîtánen an Ort und Stelle. Mit geballter Faust reiße ich ihnen die Seelen aus dem Körper. Sie winden sich schreiend und fallen zu Boden. Ein Lächeln umspielt meine Lippen.
Dann stehen wir vor der Mauer, und nichts ist uns mehr im Weg.